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Verratenes Nürnberg

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Angeblich hält die Welt bei Anlässen von hinreichender Wichtigkeit den Atem an. Vielleicht hat sie ihn am 1. Oktober 1946, an dem die Schuldsprüche von Nürnberg bekanntgegeben wurden, tatsächlich angehalten. Am 13. März 1971, 13 Tage nach dem dritten Jahrestag der Tat, genau 33 Jahre nach Hitlers Einmarsch nach Österreich, hielt nicht einmal New York den Atem an, als der Schuldspruch gegen Leutnant-Calley bekannt wurde. Es war ein Abend wie jeder andere. Die Zeitungsmänner verkauften kaum mehr Exemplare als sonst. Keine Spur von Spannung vor dem Urteil, von Erregung nachher. Amerika hatte langst beschlossen, sich von My Lai nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

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Angeblich hält die Welt bei Anlässen von hinreichender Wichtigkeit den Atem an. Vielleicht hat sie ihn am 1. Oktober 1946, an dem die Schuldsprüche von Nürnberg bekanntgegeben wurden, tatsächlich angehalten. Am 13. März 1971, 13 Tage nach dem dritten Jahrestag der Tat, genau 33 Jahre nach Hitlers Einmarsch nach Österreich, hielt nicht einmal New York den Atem an, als der Schuldspruch gegen Leutnant-Calley bekannt wurde. Es war ein Abend wie jeder andere. Die Zeitungsmänner verkauften kaum mehr Exemplare als sonst. Keine Spur von Spannung vor dem Urteil, von Erregung nachher. Amerika hatte langst beschlossen, sich von My Lai nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen.

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Das Osterfest würde nahelegen, nicht nur über die Passion des Menschen, sondern auch über seine Auferstehung und Befreiung zu meditieren. Aber das Bild, das die Welt jetzt bietet, trägt mehl und mehr apokalyptische Züge. Die Art und Weise, in der Amerika seinen Schock von My Lai „verarbeitete“, führte wieder einen Schritt näher heran an den Fall der letzten Bindungen politischer Praxis an ethische Prinzipien.

Es ist gleichgültig geworden, ob Präsident Nixon den Leutnant Calley begnadigt, freispricht oder für ein kaum ernst zu nehmendes „Lebenslänglich“ in den Kerker schickt. Das Urteil der Jury hat seine Schuldigkeit auch so getan. Es war ein Akt der rituellen Selbstreinigung, mit dem eine Gesellschaft, die sich ohnehin nicht für sonderlich reinigungsbedürftig hielt, zur Tagesordnung überging.

Die Reaktion aux das Urteil -var bei vielen Amerikanern kühl. Sei es, daß Calley die von den Theoretikern der politischen Psychologie so gern strapazierte Underdog-R“ ktion (Sympathie für den Unterlegenen, Getretenen) zugute kam, sei es, daß, wahrscheinlicher, Amerikas schweigender Mehrheit die ganze, nestbeschmutzende Richtung nicht paßt: Calley kann auf viel Verständnis rechnen. Ein „gesundes Empfinden für Gerechtigkeit“ (Warum Calley? Warum nicht Westmoreland?) geht dabei groteske Verbindungen mit patriotisch getönter Abwehr gegen die Aufrollung von Kriegsverbrechen ein.

Nixon hat also wieder einmal genau erraten, was die schweigende Mehrheit, für deren Wünsche er ein beklemmend scharfes Gespür hat, will. Damit, daß er Calleys Haft aufhob, ehe er noch in seine juristischen Erwägungen eintrat, dokumentierte er jedoch auch, welchen Stellenwert der Mon’ an vietnamesischen Zivilisten in seinem Weltbild und in dem der von ihm hofierten schweigenden Mehrheit (der Unterschied beginnt zu verschwimmen) hat.

Das Verfahren von Fort Banning wurde zur Farce durch die Aufhebung der Haft durch den Präsidenten, die nur als Sympathiekundgebung verstanden werden kann. Es wurde zur Farce durch die juristischen Rösselsprünge, mit denen alle von My Lai mehr oder weniger tangierten höheren Ränge in Sicherheit gebracht wurden. Aber es wurde auch durch die Interesselosigkeit zur Farce, die ähnlich gelagerten Fällen zuteil wird.

Bereits 1969 platzte der Prozeß gegen acht „Green Berets“, darunter Robert F. Marasco, der in Befolgung eines „sehr klaren Befehls“ der CIA den angeblichen Doppelspion Thai Khac Chuyen mit Hilfe von „Wahrheitsdrogen“ vernommen, betäubt, erschossen und ins Wasser geworfen hatte; Marasco zufolge „einer von hunderten Fällen“. Das Verfahren mußte abgebrochen werden, da die CIA den Zeugen verbot, vor Gericht auszusagen. Der erschossene Thai Khac Chuyen hatte sich jedoch für eine Koalitionsregierung unter Einschluß des Vietkong eingesetzt. Wenige Tage nach Caileys Befreiung durch allerhöchstes Machtwort wurde der Marinesoldat Schwartz auf freien Fuß gesetzt. Er war erst vor neun Monaten wegen Morde« an zwölf Vietnamesen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Damit wurde endgültig mit jenen Prinzipien gebrochen, die ein optimistischeres Amerika zur Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher formuliert hatte. Man muß immer wieder an die Erklärung in der Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklägers Jackson erinnern, das gleiche Recht werde künftig auch und gerade für die Sieger gelten.

Nach dem Recht von Nürnberg hätten mehrere höhere amerikanische Offiziere ihr Leben verwirkt: Sie haben die Schreckensszenen von My Lai aus Hubschraubern (einer 300, einer 800 Meter hoch) beobachtet. My Lai wäre mit gleichem Maß zu messen wie Oradour.

Welches Beweismaterial zum Vorschein käme, wenn der Vietkong, in einer ähnlichen Situation wie die Amerikaner 1945 in Deutschland, Pentagon und Weißes Haus durchsuchen könnte, vermag der Zeitgenosse nur schaudernd zu erahnen. Doch zwischen einem Nürnberg und einer Farce, wie sie in Fort Benning geboten wurde, hätte es eine Palette von Möglichkeiten gegeben. Daß man sich mit der schlechtesten aller Möglichkeiten begnügte, ist ein Beweis dafür, daß man auf den Status einer Person herabgesunken ist, der ihr Ruf gleichgültig ist.

Natürlich gibt es jene Intellektuellen, die nun weiter in der kaum noch schmerzenden Wunde namens My Lai herumbohren — sie spielen damit wider besseren Willen ihren Part in dieser auch im Überbau arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Sie beweisen, daß Amerikas Gewissen so leicht nicht zum Schweigen gebracht werden kann und verschaffen damit der schweigenden Mehrheit ein noch besseres Ruhekissen. Da es sie gibt und da sie ungehindert schreiben können, kann es so schlecht um Amerika nicht stehen — diesen Trugschluß können sie nicht verhindern.

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