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Wandel und Wiederkehr
Der Lauf der Zeit geht nicht geradeaus. Er ist, so scheint es, ein Tanz in Wellen und Kreisen. Vergangenes schwingt über Generationen hinweg in die Gegenwart, kreuzt den Augenblick und tritt in das Scheinwerferlicht des Bewußtseins. Dann zerbrechen Klischees, und neue entstehen.
Wert und Unwert, Achtung und Verachtung wechseln einander ab wie Wellenberg und Wellental. Eines Tages z. B. erfährt man
durch Rundfunk oder Fernsehen, daß die Neugotik ab jetzt als bedeutende Stilrichtung zu betrachten sei, und Restauratoren eilen, sie mit neuem Glanz zu versehen. Auferstehungen werden gefeiert, weil sie den Dingen Leben verleihen, indem wir sie mit Interesse betrachten. Vielleicht gibt es einen geheimen Rhythmus von Entdecken und Wiederentdecken, Finden und Verlieren? „Man kann nichts erfinden, man kann nur finden“, sagt die Tänzerin Isadora Duncan.
In den großelterlichen Mottentruhen finden die Enkel ihre neue Mode, die es paradoxer Weise nicht ablehnt, sich mit ihrem Gegenteil, dem Unmodernen, zu liieren. Zukünftiges berührt Vergangenes. Großeltern erkennen sich in den Zügen der Enkel.
Nur um uns, die Eltern, tanzt die Zeit in Drehsprüngen herum und spiegelt sich in uns als Bruchlinie.
Wir blicken in unsere beraubte Kindheit zurück, von einer Erinnerung zur nächsten tastend, bis wir die frühesten finden: mit Farben, Düften und Jahreszeiten, die es so intensiv nicht mehr gibt; mit Gras, Sträuchern und Bäumen an längst schon grünverlassenen Orten; mit Schmetterlingen und Vögel, die weggezogen oder ausgestorben sind; mit klebrigen Maikäfern, die heute kein Kind mehr kennt; mit Bächen und Gräben, Dotterblu-
men und Herbstzeitlosen auf schwingenden Wiesen, wo heute grauer, steiniger Boden ist; mit Pflanzen, die jede Mauer, jeden Zaun, jeden Weg einsäumten; mit Natur, die reich war in dieser armen Zeit, die Spielplatz, Spielzeug und Spielgefährte war und der Hintergrund, in den die ersten Erinnerungen eingesunken sind.
Nur diese Erinnerungen konnten wir an die eigenen Kinder weitergeben, ohne Vorstellung von den Bildern, die in ihnen entstanden, wenn wir von wüden Wiesen erzählten, wo sie nur häßliche Häuser sahen. Vielleicht nahmen sie die Schönheit von Wörtern wie „Mandelbaum“, .Pfirsichbaum“, „Äskulapnatter“ wie Musik in sich auf, die eine unbestimmte Sehnsucht erzeugt.
Wir selbst waren die Kinder einer Generation der wegrationalisierten kindlichen Wünsche. Unsere Eltern zerstörten unsere frühe Umwelt und lehrten auch uns
zu zerstören. Doch wir mißachteten die Wünsche unserer Kinder nicht mehr. Vielleicht ist das der einzige wirkliche Fortschritt, an dem wir teilhaben konnten.
Nun, da unsere Kinder erwachsen werden, wollen sie eine Welt in Besitz nehmen, die in vielen bis ins Detail der Umwelt unserer frühen Erinnerungen gleichen soll. Sie pflanzen Hecken und Bäume und hoffen auf die Rückkehr der Vögel. Sie entfernen Asphalt und lassen das Gras hoch wachsen für die Schmetterlinge. Sie kennen das Unkraut beim Namen. Sie ziehen Kräuter am Fensterbrett. Sie brauchen die Farbe der Hoffnung.
Bald werden auch sie Kinder haben und ihnen über ihre frühesten Erinnerungen erzählen. Welche Variation des Themas von Wandel und Wiederkehr wird dann entstehen?
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