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Zeitenwende — in welche Richtung ?

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Die Veränderungen und Krisen der Gegenwart sind vielen bewußt. Kommt es aber sogar zu einer „Zeitenwende", einem Umbruch in allen Lebensbereichen wie zur Zeit der Französischen Revolution? Die FURCHE holte dazu Meinungen ein.

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Die Veränderungen und Krisen der Gegenwart sind vielen bewußt. Kommt es aber sogar zu einer „Zeitenwende", einem Umbruch in allen Lebensbereichen wie zur Zeit der Französischen Revolution? Die FURCHE holte dazu Meinungen ein.

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Als der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sein Amt antrat, war oft von der „Wende" die Rede, von einer Änderung des (wirt-schafts) politischen Kurses. Nun aber stehen wir, wie Österreichs Regierungschef Fred Sinowatz vor dem SPÖ-Bundesparteirat erklärte, „vor einer wirklichen Zeitenwende".

Für den neuen für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen SPÖ-Zentralsekretär Peter Schieder sieht die Zeitenwende so aus:

„Von den Soziologen bis zu den Politologen sind sich alle Denker darüber im klaren, daß heute Entscheidungen getroffen werden müssen, damit auf uns zukommende Probleme gelöst werden können. Da ist die wirtschaftliche Entwicklung, die nach neuen Formen der Wirtschaftspolitik verlangt, da ist der Umweltsektor, wo es den traditionellen Gegensatz Ökologie-Ökonomie zu überwinden gilt."

Auf ÖVP-Seite hält Wiens Vizebürgermeister Erhard Busek die „Zeitenwende" eher für eine Sinowatz-„Werbechiffre", denn „Zeitenwenden erkennt man immer erst nachher". Was Busek unter einer Zeitenwende versteht — „die Französische Revolution, die Veränderungen um 1900" -, ist für ihn heute noch nicht gegeben: „Ich erkenne nur eine Reihe von Krisen, vor allem im Bereich der Wirtschaft, eine Auflösung der traditionellen Strukturen: das Ost-West-Schema hält nicht mehr, der Sozialismus ist am Ende, die Kirche ringt mit sich selbst."

Busek betont, es sei aber noch nicht klar, in welche Richtung es weitergehen wird. Er beobachtet nur zunehmende Eigeninitiativen, das Zusammenschließen in „tapfere Kleingruppen", und kommt zu dem Schluß: „Die Menschheit bereitet sich vor, einen Sturm zu überstehen."

Professor Gerald Stourzh, Historiker an der Universität Wien, hält das Wort „Zeitenwende" für eine „Münze von beträchtlichem Wert, die zum Kleingeld werden kann". Man müsse eine echte Zeitenwende von Veränderungen in einzelnen Bereichen unterscheiden. Er glaubt, daß allein das magische Jahr 2000 manche eine Zäsur erwarten läßt, kann aber selbst nur im technologischen Bereich gegenwärtig große Veränderungen erkennen.

„Einen totalen Umbruch wie im 18. und 19. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution sehe ich nicht", sagt Stourzh, der herkömmliche Periodisierungen für „mit Recht" umstritten hält, denn jener Umbruch sei sicher bedeutsamer gewesen als die Veränderungen 300 Jahre vorher, zu Beginn der sogenannten „Neuzeit". Stourzh glaubt auch, daß Zeitenwenden wie die Französische Revolution, von den Zeitgenossen durchaus bewußt als Wenden erlebt werden.

Ein Gegenbeispiel ist dazu die klassische „Zeitenwende", Christi Geburt, deren Auswirkungen erst im Laufe von Jahrhunderten allgemein spürbar wurden.

Daß die Wende im 18. Jahrhundert umfassend war, bestätigt auch Professor Günther Pöltner, Philosoph an der Universität

Wien: „Mit der Aufklärung, einer typisch neuzeitlichen Form des Philosophierens, ist vor allem ein neues Freiheitsverständnis aufgekommen, das Freiheit mit Unabhängigkeit und totaler Naturbeherrschung identifiziert."

Dieser, dann besonders von Marx ausgesprochene Gedanke übersah, daß der Mensch der Natur nicht nur gegenüber-, sondern auch in ihr steht. Somit wird auch er (am deutlichsten bei der Gen-Manipulation) zum Beherrschten. Auf die Fragwürdigkeit dieser Antithese Mensch-Natur haben bereits Neo-Marxisten wie Max Horkheimer hingewiesen, heute fordert die Ökologie-Bewegung hier ein Umdenken. Vorerst ist aber nur der Konflikt zwischen Machern und Rationalisierern auf der einen Seite und „Postmaterialisten" auf der anderen Seite erkennbar, aber noch keine Wende.

Einer, der einen „Kulturumbruch von nicht einmal den meisten gesellschaftswissenschaftlich Tätigen gesehenen Dimensionen" erkennt, ist der Wiener Soziologe Professor Leopold Rosen-mayr: „Wir stehen am Ende der Moderne, jener Zeit, die mit der Aufklärung begonnen hat." Symptome dafür sind für Rosenmayr: das Ende traditioneller Institutionen (Ehe, Familie), das „Würgen" an den Folgen einer der Fortschrittsideologie verschriebenen Wissenschaft und Technik, tiefe Unsicherheit (vor allem in Afrika und Lateinamerika) im religiösen Bereich.

„Die ausgehende Moderne ist von Rat- und Hilflosigkeit gekennzeichnet", sagt Rosenmayr, Fluchtversuche in Verteufelung der Wissenschaft, in asiatische Meditationslehren brächten nichts. Was wir brauchten, sei eine Wissenschaft, die die Folgen ihres Tuns mitbedenkt, sei mehr Friedens- und Kompromißbereitschaft, ein Heruntersteigen vom hohen Roß unerfüllbarer Forderungen zu lebbaren Zielen.

Daß uns große Umwälzungen bevorstehen, „nach der Industriellen Revolution eine Informationsrevolution", die den gesamten Arbeits- und Freizeitbereich erfassen wird, darüber besteht auch für den Wiener Naturwissenschafter Professor Kurt Koma-rek, Präsident des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, kein Zweifel. Das Zeitalter der Chips wird unsere Welt verändern. Komareks Sorge: „Österreich hat hier sehr viel aufzuholen, muß wesentlich mehr in die Grundlagenforschung investieren, sonst wird es ein Land des Tourismus und der Museen."

„Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen", heißt es in Schillers „Wilhelm Teil" und „Seid einig, einig, einig!" Vielleicht ist letzteres ein Rezept für eine Gegenwart, die zunehmend bemerkt, daß sie die Zukunft nicht so im Griff hat, wie sie es bis vor kurzem noch geglaubt hat.

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