Entscheidung, Dichotomie, Polarität - © Illustration: Rainer Messerklinger (unter Verwendung eines Bildes von iStock / Denis Novikov)

Philosoph Strasser: "Keine Wahrheit, keine Moral, kein Friede"

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Ächtet man den Wahrheitsbegriff, dann zerstört man die Grundlagen aller Menschlichkeit: eine Replik auf das letztwöchige philosophische Gespräch mit Josef Mitterer und Katharina Neges zur Kunst der Unterscheidung.

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Ächtet man den Wahrheitsbegriff, dann zerstört man die Grundlagen aller Menschlichkeit: eine Replik auf das letztwöchige philosophische Gespräch mit Josef Mitterer und Katharina Neges zur Kunst der Unterscheidung.

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Nach den Verheerungen, die heuer bereits unseren Globus erschüttert haben – Naturkatastrophen, Kriege und andere Menschheitsplagen –, könnte man meinen, es sei immerhin Zeit, sich auf jene Grundlagen zu besinnen, die uns Menschen als eine Solidargemeinschaft festigen. Doch solcher Besinnung werden schon seit Längerem gerade von liberaler Seite Widerstände entgegengebracht.

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Wir wissen, dass unter uns gewissenlose Individuen umgehen, die nur im Sinn haben, sich zu bereichern, koste es, was es wolle; oder die aus einem angeborenen Hang zum Sadismus und zur Menschenschinderei ihr Unwesen treiben. Es ist egal, ob wir sie Psychopathen oder Soziopathen nennen oder – um eine US-Publikation zu bemühen – krass metaphorisch „Snakes in Suits“. Denn oft finden sich die Schlimmsten der Schlimmen, die bloß die „Moral“ des Stärkeren, Schlaueren, Ausgefuchsten kennen, in ihren teuren Maßanzügen auf hohen Posten der Wirtschaft und Politik.

Die Wahrheit ist (vor aller strittigen Moral oder Religion) die einzige Idee, auf die wir uns alle als Vernunftwesen berufen!

Peter Strasser, Philosoph

Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Die Bösen unter uns sind dem Gespräch, dem Argument, der Rechtfertigung nur allzu gerne gewogen, solange sie das Sagen haben. Sie legen fest, was von ihren Opfern als wahr geglaubt werden soll. Durch die weltweite Verbreitung von Internetbotschaften haben mächtige „Influencer“ die Möglichkeit, tagtäglich zigfach Falschmeldungen abzusetzen, die sich, gleich einem hochaktiven Virus, rasch unter den „Followern“ ausbreiten.

Über „zwingende Gründe“

Dieses neuartige Phänomen der Fake-News-Zivilisation hat nun besonders wache Geister, die in den humanwissenschaftlichen Bereichen arbeiten und lehren, zu radikalen Formen der „Dekonstruktion“ von Konzepten veranlasst, die wir unbedingt brauchen, wollen wir uns überhaupt noch als eine Menschheit im ethischen Sinne begreifen. Auch in der vergangenen FURCHE haben uns ein Philosoph und eine Philosophin am Europäischen Forum Alpbach darüber zu belehren versucht, dass der Begriff der Wahrheit „verbraucht“ sei.

Die beiden, nämlich mein langjähriger Freund Josef Mitterer, Universitätsprofessor im Ruhestand, und die in Graz lehrende Doktorin Katharina Neges, haben dazu ein Seminar abgehalten, das – ich ironisiere ein wenig – die anwesenden Experten aus Wirtschaft und Politik gewiss nicht daran hindern wird, den Begriff der Wahrheit weiterhin im eigengebräuchlichen Sinne, und das heißt nicht selten: dogmatisch und manipulativ, zu verwenden.

Es gab den Wahrheitsrelativismus schon immer. Tritt er in Form der Skepsis auf, dann wird bestritten, dass wir in der Lage seien, eine bestimmte Meinung als gerechtfertigt vor anderen, gegenteiligen auszuweisen. Das Motiv dafür liegt darin, dass wir angeblich keine hinreichend zwingenden Gründe für irgendeine Behauptung oder Theorie angeben können. Dabei gilt als „zwingender Grund“ einzig eine logische Ableitung aus anderen Gründen – ein Ansinnen, das tatsächlich undurchführbar ist, weil jeder Grund seinerseits wieder einer logischen Ableitung bedürfte.

Deswegen wird in den Naturwissenschaften mit der methodischen Idee gearbeitet, jede möglicherweise wahre Theorie strengen Prüfverfahren zu unterziehen. Häufig wird auch nicht unmittelbar von Wahrheit gesprochen, sondern von der Wahrscheinlichkeit, die für oder gegen eine Theorie oder eine Hypothese spricht. Wie immer, Wissenschafterinnen und Wissenschafter streben danach, der Wahrheit – als Ideal – nahezukommen, nicht zuletzt deshalb, weil dies die unabdingbare Voraussetzung für eine Unsumme praktischer Anwendungen bleibt.

Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass der traditionelle Skeptizismus und Relativismus nicht den Begriff der Wahrheit selbst attackieren, sondern die prinzipielle Unmöglichkeit, eine bestimmte Behauptung als wahr oder „absolut“ wahr auszuweisen. Stets geht es um mangelhafte Wahrheitsgründe; es geht darum, zwischen konkurrierenden Hypothesen nicht rational wählen zu können.

Fataler Dekonstruktivismus

Freilich, derlei Überlegungen metatheoretischer Art haben die Normalwissenschaft kaum jemals behindert, ansonsten wäre sie nicht vom Fleck gekommen und hätte ihren Siegeszug, der die Welt von Grund auf veränderte, niemals antreten können. Mit dem humanwissenschaftlichen „Dekonstruktivismus“ kommt dann eine merkwürdige – und ich würde sagen: fatale – Wende ins Spiel. Denn plötzlich wird unter Hinweis auf die totalitäre Verwendung der Wahrheitsidee in Religion und Politik der Begriff der Wahrheit selbst attackiert und verworfen. Von ihm müsse man sich – so heißt es nun – lösen.

Was aber sollte an dessen Stelle treten? Aus der Literatur entnehme ich dazu nichts Triftiges, außer die wiederholte Ansicht, man müsse sich eben zusammensetzen, freundlich aufeinander zusprechen, dem Gegenstandpunkt verständig zuhören, um so schließlich zu einer möglichst friedlichen Einigung zu gelangen. Dabei wird übersehen, dass in jedem Gespräch – selbst in dem sprichwörtlichen Tratsch über den Gartenzaun hinweg – ständig Behauptungen ausgetauscht werden, die unverständlich blieben, würden sie nicht mit dem Anspruch geäußert werden, wahr zu sein.

Die Überzeugung, welche die Sprechenden über alle Differenzen hinweg bindet, ist der Wahrheitsanspruch. Ob das, was behauptet wird, auch wahr sei, darüber mag Uneinigkeit herrschen, nicht aber darüber, dass das jeweilige Gegenüber etwas sagen möchte, von dem es beansprucht, dass es „mit der Wirklichkeit übereinstimmt“. Die Wissenschaft hat einen weltweit akzeptierten Kanon an Methoden entwickelt, um im Einzelfall eben jenen Anspruch begründet erheben zu dürfen. Was also soll es heißen, dass die Wahrheit eine „verbrauchte“ Idee repräsentiere? Sie ist – vor aller strittigen Moral oder Religion – die einzige operative Idee, auf die wir uns alle als Vernunftwesen konsensuell berufen!

Wofür also in unserer Epoche dringend zu werben wäre, sind Konzepte, in denen die Hoffnung aufbewahrt ist, die Menschheit möge einst als Solidargemeinschaft den Erdball besiedeln und pfleglich behandeln. Ächtet man den Wahrheitsbegriff, dann zerstört man jene Hoffnung von Grund auf. Es werden jene Mächte recht behalten, welche den Bonus des jeweils Stärkeren für sich ausnützen. Ironischerweise werden sie sich dabei zynisch auf ihr Wahrheitsprivileg berufen.

An dieser Schnittstelle sieht man, wie Wahrheit und Moral zusammenhängen. Aus den Turbulenzen und Schrecknissen der Menschheitsgeschichte hat sich über die Jahrhunderte hinweg ein dichtes Begriffsnetz entwickelt, das auf grundlegende Weise definiert, was wir „menschlich“ nennen und, pathetisch formuliert, uns als unsere Würde zurechnen. Wir sind wahrheitsstrebige Wesen, die nach dem allgemeinverbindlich Guten suchen. Ohne Wahrheit keine Würde, keine Moral, kein Friede.

Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass zwar die totalitären Wahrheitsansprüche, die dem religiösen Streben nach dem Absoluten, Göttlichen, angeheftet werden, bereits für unsägliches Leid sorgten. Aber eine Religion, die sich ihres Wahrheitsanspruchs entledigt hätte, wäre nur noch eine Märchenerzählung und eine Praxis wie jede andere – und auch dadurch wäre eine Grenze des Menschlichen überschritten, hin zu einem Geschöpf ohne Hoffnung.

Der Autor ist Professor i. R. für Philosophie an der Uni Graz.

Lesen Sie das Interview, auf das Peter Strasser Bezug nimmt, hier.

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