Lilla und Pavel - © Stefan Schocher

Kriegswehen in der Ukraine

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Der Krieg stellt die Menschen in der Ukraine in allen Bereichen vor existenzielle Fragen. Die Geburtenrate ist um 28 Prozent eingebrochen. Doch nicht alle haben beschlossen, ihre Lebensplanung bis auf Weiteres auf Eis zu legen. Zu Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew.

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Der Krieg stellt die Menschen in der Ukraine in allen Bereichen vor existenzielle Fragen. Die Geburtenrate ist um 28 Prozent eingebrochen. Doch nicht alle haben beschlossen, ihre Lebensplanung bis auf Weiteres auf Eis zu legen. Zu Besuch in einer Geburtenklinik in Kiew.

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Draußen zwitschern die Vögel, die Sonne scheint. Und drinnen, da reckt sich ein Baby in seinem Strampler, eine dicke Spuckeblase vor dem Mund, einen zaghaften Blick in die Welt riskierend. Vier Stunden ist der kleine Bub gerade einmal alt, hat noch nicht einmal einen Namen. Sie wisse noch nicht, wie sie ihn nennen solle, sagt Lilia, die Mutter, streichelt den kleinen Kopf. Sie liegt auf einem Bett. Sichtlich müde ist sie, sichtlich glücklich. Eine harte Nacht hat sie hinter sich. Denn zu den Presswehen haben sich Luftalarme gesellt – gleich drei hintereinander. Da heißt es in der Geburtsklinik Nummer drei in Kiew dann: Alles ab in den Keller. Und zwar rasch. Fünf Minuten dauert das. Dann wieder rauf, dann aber doch wieder runter, dann wieder rauf, dann noch einmal runter. Letztlich aber hat der kleine Junge dann doch oben das Licht der Welt erblickt. Um 6.20 Uhr an einem Donnerstag.

Lebensplanung auf Eis

Man hat sich eingestellt auf die Umstände hier. Im Keller sei alles vorhanden, was eine Geburtsklinik brauche, sagt Ljubow Mochalowa. Sie ist Geburtsärztin in der Klinik. Aber da ist dann doch immer dieses mulmige Gefühl: Geburtskliniken stehen auch auf der Liste der Ziele Russlands in diesem Krieg. Die Klinik in Cherson hat die russische Artillerie nach der Rückeroberung der Stadt im November gleich mehrmals hintereinander beschossen. Auch in Saporischschja wurde eine Geburtsklinik getroffen, in Toretsk ebenfalls. Auch so in Kiew, als die Stadt noch belagert war. Und der massive Angriff auf die Geburtsklinik von Mariupol am 9. März 2022 war wohl einer der einprägsamsten Wegpunkte in diesem Krieg. „Ja, wir haben Angst“, sagt Ljubow Mochalowa. Und deswegen wird ausnahmslos in den Keller gegangen, wenn die Sirenen heulen. Lilia sagt dazu: Es sei gar nicht so schlecht gewesen, sich zu bewegen, etwas zu gehen.

Aber in ihrem vollen Umfang lassen sich die Folgen dieses Krieges nicht leugnen : „Natürlich, der Stress wirkt sich aus“, sagt Gynäkologe Ruslan Dowgalow, der ebenfalls in der Geburtsklinik Nummer drei tätig ist. Er zählt die Komplikationen auf, die ständige Luftalarme, Flugabwehrfeuer und Explosionen auch im einigermaßen sicheren Kiew nach sich ziehen: vorzeitige Blasensprünge, Kontraktionen, Blutungen. „Es gibt sehr viel mehr Frühgeburten“, sagt Dowgalow.

Valeria im Zimmer neben Lilia erzählt, wie sie sich die letzten Wochen bei Alarmen in den Keller geschleppt habe. „Bei fast allen Alarmen“, sagt sie. Sie wiegt den Kopf, lässt ein „pff“ durch die Zähne zischen. Mitunter habe sie es aber einfach nicht mehr geschafft. Sie hebt ihre Tochter vorsichtig aus dem Bettchen, sieht sie an, sagt fragend: „Arina? Maria?“ Sie könne sich nicht entscheiden. Lacht müde. Auch sie hat eine lange Nacht hinter sich. Auch sie musste mehrmals in den Keller. Und das kleine Mädchen hat wenig geschlafen. Aber jetzt wartet sie auf ihren Mann und die Schwiegermutter. Es geht ab nach Hause.

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