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Fürsorgerin - Sozialarbeiterin?

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Der Verband der diplomierten Fürsorgerinnen Österreichs hat im Jahre 1961 einen Fragebogen ausgearbeitet und an alle tätigen und tätig gewesenen Fürsorgerinnen Österreichs verschickt. Es sollten auf diese Weise Wünsche und Vorschläge für eine Reform der fürsorgerischen Ausbildung eingeholt werden. Dieser Fragebogen enthielt Fragen über persönliche Verhältnisse, über Beschaffenheit und Schwierigkeiten des Sprengeis, tatsächliche Arbeitsbelastung und Nachschulungs- und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten. Unter anderem wurde den Fürsorgerinnen auch die Frage vorgelegt: „Welcher Funktionstitel sagt Ihnen mehr zu, Fürsorgerin oder Sozialarbeiterin?“

Das Selbstverständnis der Fürsorgerin

Von 496 Fürsorgerinnen, die hiezu Stellung genommen haben, sprachen sich 441 (89 Prozent) für den Titel „Fürsorgerin“ und 31 für die Bezeichnung „Sozialarbeiterin“ aus, 24 äußerten sich überhaupt nicht. In diesem Zusammenhange erscheint die Begründung der einzelnen für ihre Entscheidung äußerst interessant. An dem Funktionstitel „Fürsorgerin“ wird festgehalten, weil er als „bekannt, eingebürgert, verständlich, herzlich“ empfunden wird. Diese Stellungnahme kennzeichnet die Berufssituation der österreichischen Fürsorgerinnen. Abgesehen davon, daß sie an der Bezeichnung „Fürsorgerin“ hängen, finden sie gar keine Zeit, sich mit theoretischen Überlegungen zu befassen, ihre Blickrichtung ist der Mensch, der sie braucht und dem sie helfen wollen, gleichgültig, ob als „Fürsorgerin“ oder „Sozialarbeiterin“.

Diejenigen, die sich gerne „Sozialarbeiterin“ nennen möchten, begründen ihre Wahl damit, daß die Bezeichnung „Fürsorgerin“ viel zu sehr an Fürsorgeamt und materielle Unterstützungen erinnere. Diese Begründung weist darauf hin, daß es sich bei diesen um eine Gruppe von Fürsorgerinnen handelt, die sich bereits mit den modernen Gedankengängen der Sozialarbeit und mit der neuen Stellung des Sozialarbeiters in unserer Gesellschaft auseinandergesetzt haben.

Die Entwicklungsstufen der Sozialarbeit

Um die Gedankengänge zu verstehen, die die moderne Sozialarbeit und ihre Entwicklung beeinflussen, ist es notwendig, in die Vergangenheit zu blicken.

Trotz aller derzeitigen Verschiedenheit der Sozialarbeit in den einzelnen Ländern kann in der Entwicklung doch sehr häufig eine gemeinsame Linie festgestellt werden. Eine Untersuchung, die von der Sozialabteilung der Vereinten Nationen durchgeführt wurde und die Sozialarbeit von 32 Ländern verschiedener Kontinente zum Gegenstand hatte, bestätigt diese Feststellung.

In der ersten Stufe dieser Entwicklung ist Fürsorge für die Hilfsbedürftigen eine Angelegenheit der persönlichen, individuellen Wohltätigkeit. Es handelt sich hierbei um eine nicht organisierte Hilfeleistung mit Schenkungscharakter.

Als zweite Stufe können wir diejenigen bezeichnen, in der die Gesellschaft die Hilfe gegenüber ihren bedürftigen Mitgliedern als eine allgemeine Verpflichtung übernimmt, dem Hilfsbedürftigen ein Recht auf Hilfe zugestanden wird. Die Hilfsbedürftigkeit Wird aber immer als ein wirtschaftlicher Notstand gesehen.

Allmählich zeigte es sich aber, daß es viele Menschen gibt, die trotz Vorhandenseins aller materiellen Mittel und Möglichkeiten nicht imstande sind, ein sozial angepaßtes Leben zu führen. Diese Einsicht führt zu einer Erweiterung des Aufgabenkreises der Sozialarbeit. Wir können das als die dritte Stufe bezeichnen. Es genügt nicht mehr, in den einzelnen Situationen von wirtschaftlicher Not mit einer finanziellen Unterstützung helfend einzugreifen, es ist notwendig, dem Menschen in allen seinen Schwierigkeiten, mit denen er aus eigener Kraft nicht fertig wird, beizustehen.

In der Zeit der fortschreitenden Industrialisierung wurde auch klar, daß mit Intuition und gutem Herzen allein Sozialarbeit nicht mehr geleistet werden kann. Man braucht dazu Wissen und Erfahrung, und es kam zum Aufbau der ersten Sozialschulden. 1898 hat Mary Richmond in New York die erste Sozialschule gegründet, 1899 gründete Alice Salo-mon die erste Sozialschule in Berlin. In Österreich entstanden die ersten Schulen dieser Art vor 50 Jahren. Die helfende Tätigkeit wurde immer mehr ein Lebensberuf wie jeder andere auch. Im Jahre 1926 wurden in Deutschland bereits die ersten Männer für diesen Beruf ausgebildet. Heute sind in Westdeutschland ein Drittel der Studierenden an den Sozialschulen Männer.

Die Sozialarbeit der Gegenwart ist von der Fürsorgearbeit früherer Jahre deutlich zu unterscheiden. Sie war in der Vergangenheit in erster Linie materielle Hilfe, erst in zweiter Linie persönliche Hilfe. In der modernen Sozialarbeit steht die persönliche Hilfe an erster Stelle. Persönliche Hilfe, Hilfe zur Selbsthilfe, ist ein Kriterium der Sozialarbeit unserer Zeit.

Wenn nun in der modernen Sozialarbeit die materielle Hilfe gegenüber der persönlichen Hilfe immer mehr zurücktritt, sind also Sozialarbeiter nicht mehr Leute, die für-sor-gen, für den in materielle Not geratenen Menschen sorgen, sondern weit darüber hinaus Entwicklungs-, Wachstums- und Reifungshilfe für den einzelnen Menschen, für bestimmte Gruppen oder ganze Gemeinschaften geben. Sozialarbeiter helfen also Menschen, die auf Grund ihres Alters (Kinder, Jugendliche, alte Menschen) oder infolge unzulänglicher oder zerrütteter Familienverhältnisse, durch Krankheit oder unzureichende wirtschaftliche Verhältnisse oder aber auch durch Störungen und Erschütterungen in ihrer sittlichen und sozialen Welt Rat und Beistand benötigen.

Die Eigenständigkeit der modernen Sozialarbeit

Welche Wissenschaften sind es nun, die dem modernen Sozialarbeiter für seine Tätigkeit die notwendigen Einsichten verschaffen? Er muß sich nicht nur gründlich mit Psychologie, Soziologie und Pädagogik befaßt haben, sondern auch Einblick in die Rechtswissenschaft, die Volkswirtschaft, in die Ergebnisse der Medizin und andere Fachgebiete haben.

Weil nun die Sozialarbeit ihre Grundlagen aus den verschiedenen Wissensgebieten schöpft, ist es nicht leicht, diese verhältnismäßig junge Form berufsmäßig geleisteter mitmenschlicher Hilfe gegenüber anderen älteren Formen, wie der Seelsorge, der Medizin und der Erziehung, abzugrenzen. Herbert Lattke schreibt in seinem Buch „Sozialpädagogische Gruppenarbeit“ hierzu folgendes: „Nach dem Stande der heutigen, auf internationaler Ebene in der Literatur und bei Kongressen von den im Rahmen der Sozialarbeit Tätigen, Lehrenden und Forschenden geübten Selbstkritik erscheint folgender Versuch einer Definition zutreffend: Sozialarbeit ist eine Form der Hilfe neben anderen Hilfen, die Menschen einander leisten, um so weit als möglich als ganze Menschen in ihrer Welt leben zu können. Als qualifizierte, berufsmäßig geleistete Form mitmenschlicher Hilfe hat Sozialarbeit irrt besonderen das Ziel, Kräfte im Menschen zu mobilisieren und Hilfsquellen in der Gemeinschaft zu erschließen, damit der Mensch, der solche Hilfe braucht, dadurch auf die Dauer bereit und fähig wird, seine Lebensaufgaben in seiner Welt künftig auch ohne fremde Hilfe so weit und so gut, wie es ihm möglich ist, selbst zu lösen.“

Sozialarbeit bedient sich also als wichtigstes methodisches Mittel des „Sozialen“. Das „Soziale“ ist das Mittel, nicht das Geld und nicht das Materielle, und darin unterscheidet sie sich auch von anderen Firmen der Hilfeleistung und Beratung. Ihre spezifizierten Methoden, wie sie unten genannt werden, konstituieren die Eigenständigkeit der Sozialarbeit.

Nach Lattke manifestiert sich das „Soziale“ objektiv (soziologisch) in sozialen Beziehungen, Prozessen und Gebilden, auf der Subjektseite (psychologisch) in sozialen (oder auch asozialen) Gefühlen, Gedanken, Absichten, Ansichten, Überzeugungen, Gesinnungen und anderen psychischen Erscheinungen. Sozialarbeit ist dann einerseits das Arbeiten an und mit sozialen Beziehungen und Prozessen in sozialen Gebilden, anderseits mit sozialen (oder asozialen) Gefühlen, Gedanken, Absichten usw. im Einzelmenschen.

Aus diesen Definitionen ergibt sich klar und deutlich, daß sich der Aspekt der Sozialarbeit vom rein fürsorgerischen auf einen gesamtgesellschaftlichen verschoben hat. Es geht jetzt nicht mehr um die Leistung für den Einzelnen oder für eine bestimmte Gruppe, sondern es geht um eine Leistung für die Gesellschaft.

Der Sozialarbeiter wird ein Fachmann in Fragen des menschlichen Zusammenlebens und Miteinanderlebens, aber eben nicht nur ein Fachmann in der Hilfe in materieller Not, sondern für das Zusammenleben der Menschen schlechthin. Er wird der Bürge für die Verschmelzung der Lebensverhältnisse und Lebensbeziehungen in unserer Gesellschaft. Diplompsychologe Hermann Zeit, München, nennt den Sozialarbeiter einen „Katalysator“. Der Sozialarbeiter geht in die Beziehung des einzelnen zu seiner sozialen Umwelt hinein, hilft beim Anknüpfen und bei der Festigung dieser Beziehungen und löst sich unversehrt aus diesem Versohmelzungsprozeß.

Neue Methoden — Forderung der Zeit

Wir kennen drei methodische Bereiche der Sozialarbeit:

Social casework: die Hilfe für den einzelnen Menschen,

Social groupwork: die Hilfe für eine ganze

Social Community work: die soziale Gemeinwesenarbeit.

Diese Methoden kommen aus Amerika und sind dort bereits in den letzten 50 Jahren entwickelt worden. Leider haben wir in Österreich viel zu wenig ausgebildete Fürsorgerinnen, um diese intensiven Arbeitsmethoden überall anwenden zu können. Marie Kamphuis, eine niederländische Expertin auf dem Gebiete der Sozialarbeit, schreibt in ihrem Buch „Die persönliche Hilfe in der Sozialarbeit unserer Zeit“ hierzu folgendes: „Wenn zum Beispiel ein in der Jugendfürsorge tätiger Sozialarbeiter eine Klientenzahl von 250 hat, kann er nicht in der jetzt als notwendig erkannten methodischen Art Hilfe leisten.“ Wann wird es aber bei uns so weit sein, daß eine Fürsorgerin weniger als 250 Klienten zu betreuen hat? Derzeit sind es oft noch 500 und mehr.

Die neuen Methoden der Sozialarbeit entspringen keiner überflüssigen Neuerungssucht, sie sind keine Modeerscheinung, sondern sie sind ein Ausdruck der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Beibehalten der Mittel und Einsichten vergangener Jahrzehnte erscheint unzweckmäßig und unbrauchbar für die Arbeit des Sozialarbeiters und verletzt auch den Respekt, den wir unseren Mitmenschen gegenüber aufbringen. Es ist höchste Zeit, uns klarzumachen, daß die neuen Methoden der Sozialarbeit Forderungen unserer industrialisierten und demokratischen Gesellschaft sind und ihnen gleichzeitig entgegenkommen. Wäre die Anregung nicht von der anderen Seite des Ozeans gekommen, hätten in Europa die zuständigen Fachkräfte selbst eine neue Art der Sozialbehandlung entwickeln müssen.

Aus dem Gesagten ergibt sich deutlich, daß die Bezeichnung „Fürsorgerin“ keinesfalls mehr die Tätigkeit dieses Berufsstandes in der modernen Sozialarbeit ausdrücken kann, denn „Fürsorge“ ist nur ein kleiner Teil dieser Arbeit, soweit er sich auf materielle Hilfeleistungen bezieht. „Sozialarbeiter“' ist zwar eine schlechte Übersetzung des anglo-amerikanischen Ausdruckes „Socialworker“, kommt aber der Tätigkeit der Fürsorgerin in der heutigen Gesellschaft am ehesten nahe.

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