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Was sind soziale Berufe?

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Jeder begegnet von Zeit zu Zeit im Gespräch oder in seiner Lektüre den „sozialen Berufen“. Man hört von Nachwuchssorgen und schlechter Bezahlung, man denkt an Opfergeist und Idealismus. Jeder hat auch gewisse, meist verschwommene Vorstellungen, welche Berufe konkret darunter zu verstehen seien; allerdings decken sich diese Vorstellungen oft nicht mit den Vorstellungen, die andere Leute davon haben. Fast immer werden Krankenschwester und Fürsorgerin genannt, manchmal Kindergärtnerin und Erzieherin und sehr selten der Lehrberuf — zweifelsohne im Gedanken an den Pflichtschullehrer und nicht an den Hochschulprofessor. Die Frage nach dem allen sozialen Berufen gemeinsamen, sie verbindenden Element wird meist mit „sie dienen den Mitmenschen durch persönlichen Einsatz“ oder „sie helfen dem Nächsten in Not“ beantwortet.

Im Berufsverzeichnis: unbekannt

Was sind soziale Berufe? Auf der Suche nach einer Antwort könnte man zunächst das vom österreichischen Statistischen Zentralamt erarbeitete systematische Verzeichnis der Berufe zur Hand nehmen. Hier ist jede BerufSart gemeinsam mit ihr verwandten Berufisarten in einer Berufsgruppe zusammengefaßt, mehrere ähnliche Berufsgruppen wieder gehören einer Berufsklasse an. Man würde nun erwarten, daß entweder eine Berufsgruppe oder eine Berufsklasse „soziale Berufe“ existiert und die dort von Fachleuten zusammengefaßten einzelnen Berufe dann eben die sogenannten sozialen Berufe seien. Man wird enttäuscht. Der Begriff „soziale Berufe“ ist unserer Berufssystematik fremd und mit ihr vermeiden ihn alle Berufssystematiken des deutschen Sprachraumes. Auch die Internationale Standard- Berufsklassifikation (ISCO), die im Auftrag des Internationalen Arbeitsamtes von Experten ausgearbeitet wurde, verwendet ihn nicht. Wie unsere Berufssystematik kennt auch sie nur die Berufsgruppe „social worker“ — bei uns „Fürsorger. Sozialarbeiter“ —, die Krankenschwester ist bei den Gesundheitsberufen, der Pflichtschullehrer bei den Lehrberufen eingeordnet. Die Berufs- kundler sind allgemein der Ansicht, daß ein Oberbegriff „soziale Berufe“ wenig sinnvoll und richtig wäre; die im allgemeinen Sprachgebrauch darunter verstandenen Berufe hätten zu wenig Gemeinsames!

Ist es möglich, von der Bedeutung des Wortes „sozial“ her eine Lösung zu finden? Sozial kommt von lat. socius=Genosse; sozial würde demnach gesellig, mit Gemeinschaftssinn erfüllt oder ähnliches bedeuten. Doch die Bedeutung dieses Wortes hat sich gewandelt und wandelt sich immer noch. „Sozial“ ist heute ein Wort mit vielen Bedeutungen, eine Worthülle, deren Inhalt sich nicht fassen läßt. Entsprechend vielseitig ist auch seine Verwendung: Sozialversicherung und Sozialpolitik, Katholische Soziallehre und Sozialenzykliken, Sozialismus, die soziale Frage, Sozialtourismus, Sozialwissenschaften, Sozialausgaben und Sozialprodukt, asozial und unsozial, Sozialarbeiter und so weiter. Sehr sehr allgemein sagt sozial immer nur, daß es sich um einen Vorgang in den zwischenmenschlichen Beziehungen handelt, daß etwas die Gesellschaft betrifft. Eine soziologische Sichtung und Klärung steht bis heute aus. Die Frage nach den „so

zialen“ Berufen bleibt von hier aus unbeantwortet.

Der Begriff „soziale Berufe“ erinnert an die Begriffe „wissenschaftliche“ und „technische“ Berufe. Diese Berufe sind dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen wissenschaftliche beziehungsweise technische Arbeit geleistet wird. Und damit hat man auch den Ansatzpunkt für eine Definition der sozialen Berufe gefunden. Soziale Berufe sind solche Berufe, in denen soziale Arbeit, in denen Sozialarbeit geleistet wird. Im Begriff „Sazialarbeit“ hat das Wort sozial einen ganz bestimmten, konkreten Inhalt angenommen. Sozialarbeit ist — nach einer Definition des Internationalen Arbeitsamtes — „Hilfe für Einzelpersonen und Familien bei der Lösung ihrer gesellschaftsbedingten und persönlichen Probleme“. Soziale Arbeit soll soziale Not und soziale Gefährdung beseitigen, das heißt also, Not und Gefährdungen, die ihre Wurzel im menschlichen Zusammenleben haben oder sich auf dieses negativ auswirken. Sozialarbeit nützt dem einzelnen, dem sie zugute kommt, sie liegt aber eben im Interesse der Gesellschaft. Es geht im wesentlichen darum, bestimmten Personenkreisen z. B. Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, unehelichen Müttern und ihren Kindern, Trinkern Flüchtlingen, Körperbehinderten, Strafentlassenen, alten Menschen usw. zu helfen, mit ihren verschiedenen Problemen fertig zu werden und sich bestmöglich und den gesellschaftlichen Verhältnissen ent-

sprechend zu entwickeln, sich angepaßt zu verhalten. Dies geschieht einerseits durch die Aktivierung des Hilfsbedürftigen selbst. Sozialarbeit soll immer Hilfe zur Selbsthilfe sein, keine autoritäre Betreuung, keine Bevormundung. Anderseits verlangt Sozialarbeit hinsichtlich der Betreuung von Säuglingen und Kindern eine erfolgreiche Beeinflussung der Familie, aber auch in vielen anderen Fällen spielt neben der Arbeit mit dem Betroffenen selbst die Beeinflussung seiner Umwelt — Familie und Arbeitsplatz — eine entscheidende Rolle.

Der Kreis ist weit gezogen

Soziale Berufe leisten also Sozialarbeit, und daraus ergibt sich, daß der Beruf des Sozialarbeiters, der Fürsorgeberuf, der soziale Beruf schlechthin ist. In der Systematik der Berufe 1961 sind in der Gruppe „Fürsorger, Sozialarbeiter“ eine Reihe von Berufen auf gezählt; hier sei nur die Fürsorgerin des Jugendamtes mit ihrem umfangreichen Wirkungskreis erwähnt, ferner die Familienihelferin, die Caritasschwe- ster und die Kinderdorfmutter.

Aber nicht nur in der Fürsorge, sondern auch in einer Reihe anderer Berufe wird Sozialarbeit geleistet. Charakteristisch für diese Berufe ist, daß das Schwergewicht der Tätigkeit auf einem anderen — und zwar hauptsächlich auf seelsorglichem, erzieherischem, pflegerischem oder administrativem — Gebiet liegt, daß die Berufstätigkeit aber auch regelmäßig mit sozialer Not konfrontiert. Es ist daher gerechtfertigt, hier von sozialen Berufen im weiteren Sinn zu sprechen. Dazu kann man die Kindergärtnerin, die Hortnerin, den Pflichtschullehrer und den Erzieher, die Hebamme am Land, aber auch den Seelsorger, die Pfarrhelferin, Psychologen und Ärzte — um die wichtigsten zu nennen — zählen.

Und die Krankenschwester?

Auch „Krankenschwester“ ist nach allgemeiner Auffassung ein sozialer Beruf. Nach dem hier verwendeten Kriterium — soziale Berufe leisten Sozialarbeit — kann der Beruf der Krankenschwester nicht als sozialer Beruf angesehen werden, auch kaum als sozialer Beruf im weiteren Sinn. Die Wahrung der Aufgaben der Sozialarbeit ist meist eigenen Krankenhausfürsorgerinnen übertragen, die Krankenschwester ist zuständig für die Pflege und die Sorge um die körperliche Gesundheit. Sie ist die Gehilfin des Arztes. Die hier vertretene Auffassung übersieht keineswegs die Leistungen dieses Berufes für den kranken Menschen und die Volksgesundheit überhaupt.

In jüngster Zeit strebt die Berufsvertretung der Hausgehilfinnen die Aufwertung des Berufes an, will ihn als sozialen Beruf verstanden wissen. Aber auch auf diesen Beruf treffen die oben angeführten Kriterien nicht zu. Die Hausgehilfin w'rd nicht regelmäßig mit sozialer Not konfrontiert, sie leistet keine Sozialarbeit im technischen Sinn. Auch steht sie nicht — wie alle sozialen Berufe im engeren und weiteren Sinn — der Allgemeinheit zur Verfügung. Im Gegensatz dazu ist die Familienhelferin, die einspringt, wenn und solange eine Ausnahme - Situation vorliegt, Sozialarbeiterin. Aber auch hier beinhaltet die Klärung des Begriffes „soziale Berufe“ keinsewegs eine Abwertung des Berufes der Hausgehilfin.

Ein Beruf des 20. Jahrhunderts

Was sind soziale Berufe? Das Definieren ist Sache der Übereinkunft und des zeitbedingten Verständnisses. Aus dem Ursprungsgedanken der Hilfe von Mensch zu Mensch, der Hilfe für den Nächsten, entwickelten sich eine Reihe von Berufen. Erst in unserem Jahrhundert beginnt die Geschichte der Sozialarbeit als Hilfe auf einem ganz bestimmten, eng umgrenzten Gebiet, erst in unserem Jahrhundert entsteht der Beruf des Sozialarbeiters. Sozialarbeit muß heute gelernt werden, der Sozialarbeiter gut ausgebildet sein. Bei den auch soziale Arbeit leistenden Berufen ist eine Ausbildung in dieser Richtung nicht vorgesehen. Wird man sie — bei voller Anerkennung ihrer Leistung — auch in Zukunft als soziale Berufe bezeichnen können? Es wäre denkbar, daß in Zukunft diese Bezeichnung dem im öffentlichen Ansehen gestiegenen, gut ausgebildeten Sozialarbeiter Vorbehalten bleibt und so auch Eingang in die Berufssystematiken findet.

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