Christen ohne Gnade

19451960198020002020

Wenn nicht einmal Karla Tucker Gnade fand - wer darf dann in Amerikas Todeszellen noch hoffen?

19451960198020002020

Wenn nicht einmal Karla Tucker Gnade fand - wer darf dann in Amerikas Todeszellen noch hoffen?

Werbung
Werbung
Werbung

Die Medien hatten ihre Sensation. Gestern Karla Faye Tucker, heute Falco, morgen wieder Clinton. So läuft's. Aber ist die Hinrichtung von Texas wirklich Schnee von gestern? Die nächste Vollstreckung der Todesstrafe an einer Frau in den USA kommt nämlich bestimmt, und vermutlich bald. Die übernächste auch. Unter den Tausenden Insassen amerikanischer Todeszellen ist eine ganze Reihe Frauen. Die meisten vielleicht nicht so medienwirksam wie Tucker, nicht so offensichtlich gebessert, dafür wurde vielleicht manches andere Todesurteil aufgrund einer nicht so sicheren Beweislage wie im Falle Tucker gefällt.

Erinnern wir uns: Der Papst hat nicht nur in diesem Fall, sondern bereits vor einiger Zeit um Gnade für einen Verurteilten gebeten - in einem Fall, in dem der Verdacht eines Justizirrtums nicht ausgeräumt war und ist. Es wurde nicht auf ihn gehört - selbstverständlich, möchte man sagen. Sowenig wie 1927 auf Papst Pius XI., der für Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti um Gnade bat. Zwei Sozialisten, die einen Raubmord begangen haben sollten - aber, wie man heute weiß, nicht begangen hatten. Sie wurden mittlerweile vom Gouverneur von Massachusetts rehabilitiert. Es ist fraglich, ob man im Fall Sacco und Vanzetti wirklich von Justizirrtum sprechen soll, oder nicht besser von Justizmord.

Man könnte meinen, daß in den USA Gnadengesuche aus zwei Gründen abgelehnt werden: Weil der Fall Aufsehen erregt und man zeigen muß, daß man sich von niemandem dreinreden läßt - oder, weil sich keiner um den Delinquenten schert und die Dinge ihren vorgezeichneten Gang gehen. Also auf jeden Fall. Die Amerikaner verbitten sich dabei unter Berufung auf ihre ureigensten Traditionen, auf ihr Verständnis von Schuld und Sühne, jede Einmischung. Fragt sich nur, worauf sich dann die Welt berufen kann, wenn sie über den Stand der Humanität zum Beispiel in China redet.

Natürlich kann man die Willkürjustiz und Rechtsunsicherheit in China keinesfalls auf eine Stufe mit der Geschworenenjustiz der USA mit ihren Instanzen und Sicherheiten stellen. Das wäre sehr ungerecht. Doch andererseits berufen wir uns in den westlichen Demokratien auf unser überlegenes Rechtssystem, auf unsere Ethik, auf Christentum und Demokratie. Nun mag es ja dem Mehrheitswillen der Amerikaner entsprechen und somit demokratisch sein, wenn die Begnadigung zum Tod Verurteilter zwar theoretisch möglich, jedoch praktisch so gut wie ausgeschlossen ist. Aber ist es mit dem in Amerika so zur Schau getragenen Christentum vereinbar?

Gnade ist eine zentrale Kategorie des Christentums. Wer sie in den Himmel verweist und auf Erden verneint, könnte dasselbe gleich auch mit der Nächstenliebe, einer anderen zentralen Kategorie des Christentums, machen. Allerdings deutet vieles darauf hin, daß unter den Fahnen des Neoliberalismus genau dies im Gange ist. In beiden Fällen entsteht ein peinlicher innerer Widerspruch.

Im Falle Tucker wurde er zum Greifen deutlich. Da berief sich ein Gouverneur, ein Expräsidentensohn, auf geradezu unappetitliche Weise auf Gott, als er der Verurteilten die Möglichkeit eines letzten Gnadenappells verwehrte. Jeder weiß, daß ein amerikanischer Politiker, der sich als Gegner der Todesstrafe outet, seine Chance, gewählt zu werden, entscheidend schwächt - nota bene in Texas. Überzeugte Gegner der Todesstrafe sind daher längst von ihren Überzeugungen abgerückt oder gehen auf Tauchstation. Für die Todesstrafe zu sein, gegen Begnadigungen zu sein, ist derzeit in den USA im höchsten Maße populistisch. Populismus mit Gott im Mund ist aber eben besonders unappetitlich.

Die Todesstrafe ist kein geeignetes Mittel, um die Zahl der Verbrechen zu senken. Dies ist längst statistisch erwiesen, läßt aber ihre Befürworter ebenso kalt wie die Tatsache, daß sie im Falle eines Justizirrtums nicht rückgängig gemacht werden kann. Auch der Umstand, daß ihre Beibehaltung oder Abschaffung heute in vielen demokratischen Ländern als Zeugnis für den ethischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft gilt, macht in den USA, und vor allem in Texas, wenig Eindruck. Texas zählt zu den Hardlinern in Sachen Todesstrafe. Ein Teil der Vereinigten Staaten hat sie hingegen bereits abgeschafft.

Es gibt verständliche Gründe für die Todesstrafe. Ob man nun als einzelner dafür oder dagegen ist, demokratisch getroffene Entscheidungen müssen auch von den Unterlegenen akzeptiert werden, solange sie nicht gegen grundlegende humanitäre Prinzipien, gegen die allgemein verbindlichen ethischen Werte oder gegen Grundlagen der Demokratie verstoßen.

Ein unverbrüchlicher Wesenszug jeder Demokratie ist nun aber die Möglichkeit, frei seine Meinung zu sagen. Ist diese noch gegeben, wenn, trotz verfassungsmäßig garantierter Meinungsfreiheit, ein so wichtiges Thema wie die Todesstrafe nicht mehr öffentlich diskutiert werden kann? Weil sich jeder, der es wagt, politisch unmöglich macht? Und ist die Gewissensfreiheit eines Politikers noch gewährleistet, wenn er weiß, daß er mit einem Gnadenakt seine Chance, wiedergewählt zu werden, schmälert? Besteht in einem Land ohne Diskurs in einer so wichtigen Frage kein ethisches und demokratisches Manko?

Ein Gouverneur, der sich so christlich gebärdet wie George W. Bush, und dabei so selbstgerechte Töne spuckt ("Ich werde diesen Fall genauso behandeln wie alle anderen"), sollte auch einmal über folgendes nachdenken: Das amerikanische Rechtssystem ermöglicht es, Hinrichtungen weit über ein Jahrzehnt lang hinauszuschieben und räumt damit den Delinquenten jene Entwicklungs-, sprich: Besserungsmöglichkeiten ein, auf welche die Justiz von Kulturstaaten, die dieses Etikett verdienen, solchen Wert legt. Wie ist es zu rechtfertigen, daß gerade dieses Rechtssystem dann keinerlei Interesse daran zeigt, ob eine solche Entwicklung stattgefunden hat?

Aber das Land, das sich derzeit aller Welt penetrant als ökonomischer Beispielgeber andient, läßt sich selbstverständlich seinerseits nicht über Ethik belehren. Gut beraten ist es mit dieser Haltung nicht. Denn in der Frage der Todesstrafe gehen in den USA derzeit Opportunismus und Selbstgerechtigkeit eine unmenschliche Mischung ein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung