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Wie im Mittelalter?

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Den wenigsten Österreichern wird die Ziffer 47 c noch ein Begriff sein. Für viele Patrioten bedeutete dieser Saal im Wiener Landesgericht die letzte Station ihres Lebens. Denn im Dritten Reich stand dort die Hinrichtungsmaschine. Monarchisten und Kommunisten wurden aus politischen Gründen einem Regime geopfert, das nach den Worten eines deutschen Publizisten als das „Reich der niederen Dämonen“ in die Geschichte einging.

Nach dem Kriegsende erhielt ich ein Stipendium der französischen Regierung. Im November 1946 landete ich zum erstenmal im 15. Pariser Bezirk. Dort hauste ich in einem winzigen Hotelzimmer und nahm mein Frühstück in einer leicht schmuddeligen Cafebar ein. Gelegentlich erschien ein älterer Mann. Er verlangte ein Glas Rum und schlürfte andächtig dieses Getränk. Er sah gewöhnlich aus, eben wie tausend andere Bürger dieser Stadt. Trotzdem schwiegen die wenigen Gäste sofort, sobald er seine Bestellung aufgab. Der Wirt betrachtete den Kunden mit einer unbegreiflichen Scheu, mit Bewunderung und manchmal mit Neugierde.

Eines Tages zog er mich ins Vertrauen — größte Auszeichnung für einen deutschsprachigen Ausländer im Jahr 1946 — und flüsterte erregt: „Wissen Sie, wer das ist?“ Ich wußte es natürlich nicht. „Es ist Monsieur de Paris.“ Ich begriff immer noch nichts, bis mich der Wirt belehrte,

welchen Beruf der Herr ausübte. Er war der staatlich angestellte Henker der IV. Republik.

Diese Begegnung schilderte ich in einem Kreis junger Christdemokraten des MRP und fragte, warum ein die Menschenrechte erkämpfendes und als humanistisch bekanntes Land noch immer an dieser grausamen Form des Strafvollzugs festhalte. Ich bekam verlegene und ausweichende Antworten. Ein einziger Student setzte sich energisch für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Er berichtete, sein Vater, ein renommierter Rechtsanwalt, habe zweimal an Exekutionen teilnehmen müssen und sei davon derart erschüttert, daß er seine ganze Kraft einsetze, um „Monsieur de Paris“ in Pension zu schik-ken. Er stellte mich seinem Vater vor, der mir später den Vorgang einer Hinrichtung ausführlich erzählte. Diesen Bericht veröffentlichte ich damals mit seiner Zustimmung und nach reiflicher Überlegung in einer Wiener Wochenschrift. Damit wollte ich alle Leute aufklären, die zu oft und zu gerne nach dem Henker als dem letzten Schutz der gesellschaftlichen Ordnung rufen.

Inzwischen haben alle westeuropäischen Staaten — mit Ausnahme Frankreichs, Griechenlands und Spaniens — die Todesstrafe abgeschafft. In den Ländern ohne Todesstrafe gibt es heute nicht mehr und nicht weniger Mörder, als einst, da eine schaurige Prozession im Morgengrauen durch die Gefängnisgänge

schlich, um einen Verurteilten zur letzten Kommunion, zum letzten Glas Rum zu begleiten.

In Frankreich fand im intellektuellen und liberalen Milieu die Bewegung aufgeklärter Geister großen Anklang, die Guillotine in das Wachsfigurenkabinett zu verbannen. Nobelpreisträger Camus, der Biologe Rostand und andere Schriftsteller traten mit Vehemenz gegen die Todesstrafe auf. Natürlich schwammen sie gegen den Strom, denn das „gesunde Volksempfinden“ verlangte weiterhin nach dem Fallbeil und nach den makabren Vorbereitungen, wie sie der Meisterregisseur Cayatte in seinem unvergessenen Film „Wir alle sind Mörder“ illustrierte.

Sehen wir von den vielen Hinrichtungen im Zusammenhang mit politischen Säuberüngsaktionen unmittelbar nach dem Kriege ab, so wurden in Frankreich von 1956 bis 1968 insgesamt 20 Personen guillotiniert. Einen Fall empfanden selbst hartgekochte Juristen als tragisch: Nach einem gescheiterten Überfall in einem Wechselbüro hatte ein Jugendlicher in der Verwirrung auf einen ihn verfolgenden Polizisten geschossen und ihn getötet. Nach Aussagen von Geistlichen, Psychiatern und der Gefängnisverwaltung änderte sich der junge Mann vollkommen in seiner Zelle und konnte schließlich als halber Heiliger bezeichnet werden. Unter Anwendung stärkster Druckmittel forderte die Polizeigewerkschaft seinen Tod. Nach langem Zö-

gern wurde er tatsächlich der Maschine überantwortet.

Seit dem Amtsantritt von Georges Pompidou im Jahr 1969 wurden sämtliche zum Tod Verurteilten von ihm systematisch begnadigt. Daß der Staatspräsident die Todesstrafe ablehnt, wurde allmählich publik. Die Anhänger der Abschaffung jubelten schon und sprachen von einer „Agonie“ des betreffenden Paragraphen der Strafprozeßordnung. Seit Wochen stand nun das Thema einer neuerlichen Begnadigung im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen. Claude Büffet und Roger Bontems

— ersterer hatte in einem Taxi eine junge Frau getötet, „nur um zu sehen, wie so etwas vor sich geht“

— unternahmen im Gefängnis von

Claireveaux einen Ausbruchversuch, indem sie einen Wärter und eine Krankenschwester als Geiseln festnahmen. Die zuständigen Behörden handelten nicht weniger ungeschickt als im September 1972 die Polizisten in München. Büffet ermordete seine beiden Opfer. Sein Genosse Bontems lud allerdings keine Blutschuld auf sich. Trotz der Abscheulichkeit dieser Tat sprach sich die Pariser Presse fast einstimmig für eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus aus. Auch der Umstand, daß ein Leben letztlich von der Entscheidung eines einzigen Menschen abhänge und dessen Gewissen belaste, wurde kritisiert.

Bei Meinungsumfragen, deren Wert zur Zeit in Frage gestellt ist, waren 63 Prozent der Franzosen für die Beibehaltung der Guillotine. Die Gefängniswärter befürchteten überdies eine Wiederholung ähnlicher Vorfälle und wurden durch zahlreiche Häftlingsrevolten seit 1971 in Angst versetzt. Georges Pompidou steht mitten in den Wahlvorbereitungen. Dadurch ist er gezwungen, mehr als sonst auf die Meinung der Nation einzugehen und sich den Argumenten der Mehrheit zu fügen. Zum erstenmal verweigerte er die Gnade. Büffet und Bontems gingen gefaßt in den Tod.

Die Mehrheit der älteren Generation ist mit der Hinrichtung einverstanden. Die Jugend dagegen revoltiert und lehnt sich gegen eine Strafe aus dem Mittelalter auf, die inhumane Züge zeigt und weder verbessernd noch abschreckend wirken kann. Die französische Justiz steckt in einer schweren Krise. Sie wird die blutigen Schatten eines Büffet und Bontems nicht so schnell vertreiben können. Aber allen, die gegen die Todesstrafe eintreten, brachte der 28. November Traurigkeit und Enttäuschung.

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