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„Neuauflage des Falles Dreyfus“

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Am 16. Juli verließ ein etwas kor- Geschäftsleute hätten Mädchen und pulenter, älterer Herr das Gefängnis junge Frauen mit raffinierten Me-der französischen Stadt Bethune. thoden in ihre Laden gelockt, sie Wochen hindurch boten er und seine dort betäubt und rudelweise in süd-Affäre der Öffentlichkeit eines der amerikanische und arabische Bor-wichtigsten Gesprächsthemen, er- delle verkauft. Da wurde von hinter zeugten bittere Polemiken, füllten Spiegeln eingebauten Falltüren fa-die Zeilen der Skandalpresse und ge- buliert. Jedes Mal, wenn eine Kun-statteten dem Fernsehen sensatio- din ein Kleid probiere, stoße sie der nelle Reportagen. Immer wieder wird Inhaber des Geschäftes in dieses Ver-es vorkommen, daß ein Mann des steck, wo eifrige Komplicen mit der Mordes an einer Frau oder einem Ätherwatte warteten. In Schuhge-Mädchen verdächtigt wird. Und im- schaffen habe der tückische Israelit mer wieder wird es vorkommen, daß mit Gift getränkte Nadeln in die ein Unschuldiger infolge eines Ver- Schuhe eingebaut, die das unglück-hängnisses für eine Tat haften muß, liehe Opfer sofort einschläferten. Ob-die er nie begangen hat. Aber der wohl in der fraglichen Zeit kein Fall des Notars Pierre Leroy aus dem Gatte oder Vater das Verschwinden Städtchen Bruay-en-Artois, vom Un- von Frau oder Tochter der Polizei tersuchungsrichter Pascal bezichtigt, meldete, wurden die jüdischen Ge-am 5. April 1972 die 16jährige Mi- schäftsleute isoliert. Zahlreiche So-nenarbeiterstochter Brigitte Dewevre ziologen und Psychologen studierten erdrosselt und mit einer Hacke ver- inzwischen diese Form der modernen stümmelt zu haben, zeigt derartig Hysterie, die in manchem an die He-verwirrende Aspekte, daß einzelne xenJagden früherer Jahrhunderte angesehene Pariser Zeitungen sogar erinnert. Es ist unnütz, zu sagen, daß von einer Neuauflage des Falles den beklagten Personen nicht ein Dreyfus sprechen. einziger Fall von Mädchenhandel

Die französische Justiz, seit dem nachgewiesen werden konnte. Es Mai 1968 im Kreuzfeuer heftiger dauerte lange Zeit, bis sich die GeKritik, zeigte nach dieser Angelegen- müter beruhigt hatten. Die Quellen heit nicht mehr dasselbe Gesicht wie der Verleumdungen wurden bis heu-vorher. Viel bedenklicher ist aller- te nicht aufgedeckt, dings der Ausbruch einer Massen- Ähnliches spielte sich anläßlich der hysterie, die nicht nur die Region er- Verhaftung Pierre Leroys in Bruay faßt hat, sondern deren Wellen im ab. Dieses Städtchen mit seinen ganzen Land spürbar sind. Selbst bei 30.000 Einwohnern fiel bisher durch einem aufgeklärten und liberalen nichts auf. Die Männer arbeiteten Volk, wie es ohne Zweifel die Fran- hart in den Minen, deren Stillegung zosen sind, tauchen in der Tiefe der befürchtet wird. Mit Neid blicken sie Nation Strömungen auf, die rational auf die lokalen Würdenträger' und nicht abzumessen und einzuordnen Bürger, die oft Tür an Tür neben sind. Wer denkt in diesem Zusam- ihnen wohnen, in Sitten und Lebens-menhang nicht an die fantastischen gewohnheiten jedoch mehr von Ereignisse, die sich 1969/70 in den ihnen getrennt sind als in den Großstädten Orleans und Amiens ab- städten. Diese Bourgeoisie, Stütze spielten? Wie eine Epidemie breitete des Staates und der bestehenden sich dort das Gerücht aus, jüdische Ordnung, fröhnt oft teuren Vergnügen, wie der Jaga, dem Tennis unc dem Reiten. In einem örtlichen Ro-tary-Club tauschen Industrielle Ärzte und Landedelleute ihre politischen Meinungen aus, pflegen ein begrenzt mondänes Leben, verkuppeil die Jugend ihrer Schicht untereinander und flüstern einander Bosheiter über Freunde und Nachbarn zu.

Als sich der Untersuchungsrichtei Pascal — nach der Meinung des großen Balzac ist ein französischer Untersuchungsrichter der mächtigst Mann im Staat — trotz geringen Beweismaterials entschloß, den Notai des Mordes anzuklagen, entfesselte er im Minengebiet eine Woge de: Zorns. Die empörten Arbeiter erklärten: „Wir müssen in den Stoller schuften und sie ermorden unsere Kinder.“ Das Urteil lautete eindeutig: „Er ist reich, also ist er auch dei Mörder von Brigitte.“ Während dei Rekonstruktion der Tat kam es zi unqualifizierbaren Ausbrüchen Tausender von Neugierigen. Ältere

Frauen taten sich besonders hervor, indem sie den Beschuldigten begeiferten und ihm sämtliche Frauenmorde der letzten 20 Jahre anlasteten.

Die Verlobte des Notars, eine in Scheidung befindliche wohlhabende Besitzerin von Einheitspreisläden, wurde ständig insultiert. Wohl unter dem Druck der Volksmeinung sah sich der Untersuchungsrichter gezwungen, Madame Beghin-Mayeur der Komplizität anzuklagen und ebenfalls zu verhaften. Die extreme Linke schlachtete den Vorfall aus. Sie gründete Verteidigungskomitees zugunsten des Untersuchungsrichters, der den Mut gezeigt habe, die „mörderische Bourgeoisie“ in der Person des Notars anzugreifen und anzuklagen. Getreu ihrem Prinzip, eine Partei der Ordnung zu sein, mahnten dagegen die Kommunisten zur Mäßigung.

In den letzten Jahren wurde keine Kriminalaffäre von den Massenmedien so hochgespielt wie diese. Aus ganz Frankreich strömten am Wochenende Leute nach Bruay. Sie begutachteten Schilder, auf denen zu lesen war: „Hier tötete das Bürgertum die Tochter eines Minenarbeiters.“ Einflußreiche Persönlichkeiten —- unter ihnen Sartre, gegenwärtig

, r um er uei iviaoisien — mannten zui Vernunft. Aber die Geister, die mar

■ gerufen hatte, wurde man nicht mehr

■ los. Wir sehen von der juridischer Seite des Falles ab, von den Groi tesken, die damit verbunden waren

! Die Staatsanwaltschaft verlangte

, mehrfach die Freilassung des Notars

• da der Untersuchungsrichter trot? t emsigen Suchens keine schlüssiger

- Beweise für die Täterschaft Vorleger

' konnte. Verschiedene Gerichtshöfe l stritten sich um ihre Kompetenzen

! Es wurde bekannt, daß sogar Staats-

. Präsident Pompidou mit großem Un-

5 behagen die Fernsehkarriere des Un-

■ tersuchungsrichters verfolgte. Au1 : Grund der Entscheidung eines ober-

■ sten Gerichtshofes entzog man derr I Richter Pascal am 20. Juli den Akl , und betraute eine neutrale Justizbe-, hörde in Paris mit der Fortsetzung i der Untersuchung.

Als Notar Leroy zum erstenma: ! wieder die Freiheit genoß, empfing ihn die Masse seiner Mitbewohner : mit tödlichem Schweigen. Für die ehrenwerten Bürger von Bruaj bleibt der Notar ein Blaubart des ; 20. Jahrhunderts, ein Landru zur Potenz. Die sogenannte Komplizin, Ma-

■ dame Mayeur, brummte weiter. Nach . ihrer Freilassung wurde ihr von der ; Frauen der Nachbarschaft eine alttestamentarische Strafe angedroht die Steinigung. Das Paar, bisher hochgeachtet und angesehen, und nicht ohne gewisse Verdienste um die Gemeinde, soll außerdem in der Villa der jungen Frau Orgien gefeiert haben, die an die Sagen vom Blocksberg erinnern.

Hinter diesen Exzessen der öffentlichen Meinung verschwindet die Majestät der Justiz und niemand spricht mehr von einem 16jährigen Mädchen, das vermutlich am 14. Juli an einem der öffentlichen Bälle dieses Festtages teilgenommen hätte. Auch kein Untersuchungsrichter und ; kein Polizist hatte sich bemüht, an-I dere Spuren ausfindig zu machen und unabhängig von Pierre Leroy und seiner Verlobten einen Täter zu eruieren, der sicherlich als neuer „Dr. Jekyll“ in Bruay haust.

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