Gegen Markt und Medizin

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Ivan Illich, der radikale Schul-und Medizinkritiker, wäre 80 Jahre alt.

Ivan Illich wäre am 4. September achtzig Jahre alt geworden. War Ivan Illich Priester, Kultur-oder Zivilisationskritiker, war er Soziologe oder realistischer Träumer, oder vielleicht doch ein Prophet? Jedenfalls lässt sich Illichs Lebenswerk keiner Schule, keiner Denkrichtung und keinem zeitgenössischen Lebensgefühl zuordnen. Ein Suchender war er geblieben. "Pilger des Offensichtlichen" wurde er genannt.

Weder hatte der 1926 geborene Enkel aus großbürgerlich-jüdischen Verhältnissen nach der Flucht aus Wien einen Ort gefunden, der ihm seine früh verlorene väterliche Heimat in Kroatien ersetzt hätte, noch bot ihm die Kirche Wirk-und Heimstatt. Die Kirchenkarriere war ihm in die Wiege gelegt. In die aristokratische Familie Illi\0xB4c mit alten Verbindungen zur römischen Kirche hinein geboren, war er außerdem charismatisch, intellektuell brillant und ein frommer Mann. Seine Förderer an der Gregoriana, u.a. der französische Philosoph Jacques Maritain (1882-1973) sowie Giovanni Montini, der spätere Papst Paul VI., drängten ihn, in Rom zu bleiben. Der junge Mann aber kehrte der kirchlichen Bürokratie den Rücken.

Von Rom nach Mexiko

Illichs lebenslange Pilgerschaft lässt sich über Themen und Kontinente verfolgen. Er war dem Bezugspunkt auf der Spur, den die Gewissheiten seiner Zeit noch nicht vereinnahmt hatten. Von Europa, wo er in Wien, Florenz, Rom und Salzburg gelebt und studiert hatte, ging er 1951 nach New York. Dort machte er sich unter den puertoricanischen Einwanderergemeinden als Priester-Erzieher einen bleibenden Namen. Nach einigen Jahren als Vizerektor an der Katholischen Universität in Puerto Rico gründete Illich sein unkonventionelles Lernexperiment, das Interkulturelle Dokumentationszentrum (CIDOC) in Cuernavaca, Mexiko. Dort sollten die jungen Missionare und hoch motivierten Gutmenschen aus Nordamerika ihren Sendungsauftrag überprüfen. Sie waren dem Aufruf von Papst Johannes XIII. gefolgt, die lateinamerikanische Kirche zu modernisieren. Illich sah darin nichts Attraktives. Er wollte aus den Freiwilligen kritische Menschen machen, die ihre eigene imperialistische Prägung anerkennen, sich somit der Wirklichkeit und sich selber stellen und möglicherweise den Auftrag ihrer Kirchen mündig ausschlagen.

Kirchliche Konflikte

Illich war stolz, dass es ihm gelang, seine Studenten zu verunsichern. Mit der Zeit wurde das CIDOC immer weltlicher. Die Glaubenskongregation bewirkte einen päpstlichen Bann über das Center, weil sein Direktor angeblich kommunistische Propaganda betrieb. Nach Jahren der Auseinandersetzungen mit dem Vatikan legte Illich 1969 sein Priesteramt nieder. Danach sprach er auch über Glaubensfragen, jedoch nie wieder im Namen der katholischen Kirche.

Im Mittelpunkt der reichen Forschungs-und Lehrtätigkeit am CIDOC stand in den Jahren nach dem päpstlichen Verdikt das Topthema dieser Tage, Bildung: über Pflichtschulen und ihre fragwürdigen Konsequenzen durfte ebenso nachgedacht werden wie über Bildungsalternativen. Das CIDOC wurde zum Treffpunkt der radikalen US-amerikanischen Schulkritiker.

Die Studierenden gehörten der Baby-Boom-Generation der Nachkriegszeit an und zählten damit zu den 25-bis 30-Jährigen, die Ende der 1960er Jahre mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung ausmachten. Viele lebten vor, was Herbert Marcuse die "Große Weigerung" nannte. Diese Beatniks und Hippies waren einen freiheitlichen Erziehungsstil gewöhnt. Das CIDOC war und blieb dennoch ein Ort für Intellektuelle und ein Refugium der Belesenheit in diesen Tagen des politischen Aktionismus. In seiner Schrift "Entschulung der Gesellschaft" bezeichnete Illich 1971 Pflichtschulbildung als ein Ritual der Industriegesellschaft. So vernünftig die Ziele schulischer Ausbildung auch klingen mochten, an ihren Ergebnissen gemessen fördere sie Ungleichheit und schränke die Kreativität der Menschen ein.

Illich in aller Munde

1976 war für Illich die Zeit reif, sein unkonventionelles Lerninstitut für immer zu schließen und wieder auf Wanderschaft zu gehen: längere Zeiten verbrachte er in Japan und Indien. Als Gastprofessor lehrte er in den USA. In den 1980er Jahren landete er thematisch in der europäischen Geistesgeschichte und lehrte für immer längere Zeiten wieder als Dozent auf dem alten Kontinent, an den Universitäten von Kassel, Marburg und Bremen.

Ivan Illich beherrschte vierzehn Sprachen und doch blieb seiner Rede und seinen Ideen ein Ton des Fremdseins. Seine Provokationen gegen die heiligen Kühe der Nachkriegszeit und die Institutionen der Modernisierung waren in den 1970er Jahren in aller Munde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sah es so aus, als würde es in Europa, den USA und selbst den Entwicklungsländern ökonomisch immer nur bergauf gehen. Die Regale in den Supermärkten füllten sich. In jedem Winkel dieser Erde entstanden neue Straßen und Bauten, wurden moderne Institutionen geschaffen: Schulen, Spitäler, Gefängnisse und Irrenhäuser. Die Verheißung lautete: mehr Wohlstand, mehr Markt, mehr Freiheit. An den Plänen der Institutionen nährten sich die Erwartungen eines Lebens in Frieden und unerschöpflichem Konsum. Schulen, Autobahnen, Wohnsilos, Spitäler sind zu selbstverständlichen Notwendigkeiten geworden. Weil dies so ist, fordern wir im Sinne einer gerechten Verteilung von Lebenschancen, dass alle Menschen auf diesem Planeten - besonders aber die Armen - an diesen Segnungen teilhaben mögen. Illich war ein Spielverderber, wenn es um diese Glaubensätze ging.

Entschulung

Früh erkannte er die Grenzen der Institutionen und behauptete, Schulen könnten keinen Freiraum des Lernens eröffnen. Lehrpläne und Unterrichtsziele aber erstickten die schöpferischen Fähigkeiten von Lehrern und Schülern. Das Automobil bewegt sich von alleine. Doch, was passiert, wenn immer mehr Menschen und Güter ständig - alleine - hin und her bewegt werden? Ärzte helfen. Doch finden wir uns nicht als Patienten wieder, als hilfsbedürftige Duldende, wenn Anstalten zur Norm und Gesundheit zur Pflicht werden? Experten wissen, was zu tun ist. Niemand braucht mehr eigenmächtig zu entscheiden, was für ihn taugt. Illichs Zweifel, Fragen und Provokationen entbrannten an dieser Entmündigung durch die Expertenherrschaft. Zutiefst fragwürdig und ungastlich fand er eine Welt, in der eine immer größer werdende Schar von Bürokraten darüber befindet, was die Masse der Menschen wollen, tun und müssen soll. Entwicklungspläne für die Dritte Welt hielt er für besondere Allmachtsphantasien der Expertenkaste.

In seinen Schriften verteidigte er den vielfältigen Ausdruck gewachsener Regeln und Umgangsformen, die das Zusammenleben der Menschen über Jahrhunderte gelenkt hatten. Er prägte den Begriff der Konvivialität, wobei es ihm um einen lebensgerechten Einsatz des technischen Fortschritts ging. In seiner Medizinkritik versuchte er zu beweisen, dass die Expertenantworten auf die Fragen der Zeit kontraproduktiv und gewaltsam seien. Die modernen Experten glaubten an Entwicklung und Modernisierung und monopolisierten diesen Glauben. Illich erkannte, dass die neuen Regenmacher und Doktoren vorgingen wie die Missionare früherer Jahrhunderte.

Seine Analyse der modernen Gesellschaft bietet eine überraschende Sicht auf das Christentum und die Grundlagen der abendländischen Kultur. Moderne bedeutet für Illich weder die Erfüllung noch die Antithese zum Christentum. Er sah in ihr die Verkehrung der lateinischen Christenheit. Denn die Kirche hatte ihre Macht eingesetzt, um die Menschen zu formen und zu disziplinieren. Regeln und Vorschriften markierten den Weg zur Erlösung und erwirkten jene Wertschätzung von Normen, die das abendländische Rechtssystem und deren Ethik ausmacht und damit die Macht der modernen Institutionen sichert.

Gegen Ökonomisierung

Illichs Schriften wurden in viele Sprachen übersetzt und weltweit diskutiert. Kaum aber übernahmen die kritischen Linken Regierungsverantwortung, wurde Illich ihnen zu pessimistisch, zu grundsätzlich: dass die Lohnarbeit zum zentralen Faktor der individuellen wie kollektiven Existenz geworden ist, wunderte niemanden mehr. Die Sexualisierung der modernen Gesellschaften wurde zwar diskutiert, aber die Feministinnen waren nicht an Illichs Warnungen vor der banalen Ökonomisierung ihrer Forderung nach Gleichheit interessiert. Und wer wollte im Zeitalter der globalen Telekommunikation denn hören, dass die im Mittelalter übliche Kontemplation von Texten einen sinnlichen Umgang mit Schrift bedeutete, die heutige Produktion von Information jedoch jeden Sinn verloren hat?

Pessimistischer Polemiker

Illich war ein Pessimist - ein nicht zuordenbarer Polemiker. Im Frühmittelalter fand er schließlich jene Wegscheide, von der aus sich das Leben in dieser Welt zu verändern begonnen hatte. Solche Erkenntnisse interessierten aber nur noch eine kleine Leserschar. Illich starb als Außenseiter, als Sonderling. Wie hätte es auch anders kommen können? - Jetzt, da sich die Experten einig sind, dass in einer globalisierten Welt jeder Mensch das Recht, geradezu die Pflicht hat, ein Zeitgenosse der geschulten, automobilen, gesundheitsversorgten, der informierten und grenzenlosen Einen Welt zu sein. Illichs Warnungen vor dem Zuviel-vom-Gleichen sind im Getöse der Globalisierung verklungen.

Sollte der Funken seiner Zweifel auf uns überspringen, bietet sich die Auseinandersetzung mit Ivan Illichs reichem Werk an. Seine wichtigsten Schriften sind bei C.H. Beck auf Deutsch neu aufgelegt worden: Entschulung der Gesellschaft (2003), Klarstellungen (1996), Selbstbegrenzung (1998), Die Nemesis der Medizin (1995), Genus (1995). Rechtzeitig zum 80. Geburtstag veröffentlicht derselbe Verlag unter dem Titel "In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley" die deutsche Übersetzung seiner sonderlichen Hinterlassenschaft.

Die Autorin ist Professorin für neuere Geschichte an der Universität Wien.

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