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Lehren einer harmlosen Epidemie

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902 Menschen sind in Oberösterreich erkrankt. An einer Epidemie, die man in einem mitteleuropäischen Land nicht mehr anzutreffen meinte. Zwar ist die Erkrankungsserie relativ harmlos, vergleicht man sie mit den Seuchen des Mittelalters, ja noch des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als die Cholera auch in Österreich wütete. Aber alles in allem hat die Paratyphus-Epidemie klargemacht, daß wir auch im Jahrzehnt der Herztransplantation vor Ansteckungskrankheiten nicht gefeit sind.

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902 Menschen sind in Oberösterreich erkrankt. An einer Epidemie, die man in einem mitteleuropäischen Land nicht mehr anzutreffen meinte. Zwar ist die Erkrankungsserie relativ harmlos, vergleicht man sie mit den Seuchen des Mittelalters, ja noch des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als die Cholera auch in Österreich wütete. Aber alles in allem hat die Paratyphus-Epidemie klargemacht, daß wir auch im Jahrzehnt der Herztransplantation vor Ansteckungskrankheiten nicht gefeit sind.

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War früher der Typhus eine heimtückische Krankheit mdt einer Mindestquote an Todesfällen von zahn Prozent, haben die modernen Pharmazeutika die akute Gefahrengrenze praktisch auf Null gesenkt. Und die hierorts aufgetretene Paratyphus-Epidemie sollte auch besser als eine Form der Lebensmittelvergiftung angesehen werden. Und glücklicherweise geht sie bereits sichtbar zurück.

Ursache der Erkrankungen war — das ist nunmehr eindeutig geklärt — der Speiseeisverkauf am Jahrmarkt in Urfahr. Dort konsumierten Besucher das verseuchte Eis, und es gelangte überdies nach Waldhausen im Müihlviertel, wo ein Ladenbesitzer eine größere Menge des in Urfahr erstandenen Eises weiterverkaufte. Die oberösterreichischen Behörden ergriffen praktisch alle Maßnahmen, die ein weiteres Ausbreiten der Epidemie verhindern sollten. Mehr war und ist einfach nicht möglich. Auch die Untersuchungen ergaben, daß der Markt von Urfahr von der Lebensmittelpolizei kontrolliert

wurde und die hygienischen Voraussetzungen auf diesem Volksfest am Donaoufer nicht schlechter waren als anderswo.

Kann es also morgen schon wieder zu einer solchen Entwicklung kommen? Sind wir machtlos? Steckt in jedem Eis der mögliche Bazillus? Längst hat die Erkrankungswelle über den rein medizinischen Aspekt hinaus an Bedeutung gewonnen. Zahlreiche Fremdenverkehrsgemeinden fürchten einen starken Rückgang der Urlaubsbuchungen. Im Ausland haben die Meldungen entsprechende Wirbungen verursacht und es ist ernsthaft mit einer Schädigung des heimischen Fremdenverkehrs in dieser Sommersaison zu rechnen. Überdies hat eine gewisse Unsicherheit und Angst das Erkrankungsgebiet befallen. Aber wer garantiert, daß Paratyphus oder andere Epidemien nicht, schon morgen ganz woanders wieder ausbrechen können? Vor allem die Ärzte warnen vor dem Glauben, daß Österreich und auch seine Nachbarländer vor ähnlichen Erscheinungen geschützt seien. Ja, nicht einmal die Betten- und Ärztekapazität würde normalerweise ausreichen, um größere Massenerkrankungen zu bewältigen.

Die Ereignisse dieses Mai In Oberösterreich sind eine dringende Forderung an alle öffentlichen und privaten Institutionen, der Gesundheitspolitik mehr Geltung und Wichtigkeit zu verschaffen. Denn der Hygienezustand unseres Landes entspricht absolut nicht unserem wirtschaftlichen Standard. Noch immer besitzen 48 Prozent aller österreichischen Haushalte kein eigenes Bad. Und auch 25 Prozent aller Haushalte verfügen über keinen Eiskasten, der die Grundvoraussetzung der modernen Lebensmittelkonservierung ist. Wir wissen überdies, daß etwa SO Prozent aller Wiener Wohnungen über kein eigenes WC verfügen. Und auch auf vielen Bauernhöfen herrschen jämmerliche Hygienezustände. Weitere Daten über unseren Zivilisationsgrad müssen noch mehr erschrecken: im Seifen- und Waschmittelverbrauch liegt Österreich erst an siebenter Stelle in Europa. Und im Durchschnitt wechselt der österreichische Mann nur einmal pro Woche das Hemd.

Dabei hat die Werbewirtschaft gerade in puncto Sauberkeit einiges in Österreich geleistet Für keinen Produktzweig wird soviel Werbung betrieben wie für Wasch- und Reinigungsmittel sowie Kosmetika.

Trotz Verschärfung des Lebensmittelgesetzes und der neuen Inhalts-beschriftungen bei Lebensmitteln werden noch immer Nahrungsmittel in abscheulicher Form gelagert und gehandelt. Auf den öffentlichen Märkten wie etwa dem Wiener Naschmarkt herrschen archaische Zustände, obwohl alles von den städtischen Behörden getan wird, mittels der gesetzlichen Vorschriften die Minimalhygiene durchzusetzen. Aber es nützen auch die gründlichsten Vorschriften nichts, wenn die Bereitschaft und selbstverständliche Beziehung zur Hygiene fehlt. Der innere Schweinehund sitzt im wahrsten Sinn des Wortes tief. Was not tut, ist eine Hebung unseres allgemeinen Wohn- und Eßstandards in Beziehung auf die allgemeine menschliche Hygiene. Aus diesem Grund sollte die Öffentlichkeit mehr tun, um quasi im Selbstschutz notorischen Schmutzfinken das Handwerk zu legen. Der Zustand öffentlicher Toiletteanlagen, von Bahnhofswartehallen, Telephonzellen und Verkehrsmitteln ist manchmal geradezu beschämend. Überdies aber sollten Bund, Länder und Gemeinden Maßnahmen ergreifen, um die Sauberkeit und Hygiene propagieren zu helfen. Das geht von Plakataktionen über Auszeichnungen bis zu rigorosen Verwaltungsstrafen für unappetitliche Mitmenschen. Wir brauchen zwar jetzt keinen Saulber-keitsfanatismus mit einer Persil-Polizei, aber wir brauchen eine allgemeine Hebung unseres Zivilisationsniveaus. Gesünder und schöner leben hört nicht bei der eigenen Eingangstür auf.

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