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Bindung an die Gerechtigkeit

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Ist alles in Ordnung, wenn rein formal alles seine Ordnung hat? Oder ist der Rechtsstaat höheren Werten und deren Durchsetzung verpflichtet?

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Ist alles in Ordnung, wenn rein formal alles seine Ordnung hat? Oder ist der Rechtsstaat höheren Werten und deren Durchsetzung verpflichtet?

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Ein Fremder steht am Schlagbaum ohne Visum, seine Einreise wird vom Grenzschutz verhindert. Die Grenze wird zur Scheidelinie. Jemand, der den Reisepaß bei der Polizei hinterlegen mußte, darf nicht hinaus. Er ist eingeschlossen. Formal-rechtsstaatlich ist die Situation beider einwandfrei, wenn die Staatsorgane gesetzlich gehandelt haben.

Ähnliches droht dem Rechtsstaat. Hohe Kosten der Rechtsverfolgung und Unübersichtlichkeit der Rechtsvorschriften schließen vom Rechtsstaat aus. Verfahrenshilfen und Durchforstung des Vorschriftendschungels könnten Abhilfe schaffen.

Der formale Rechtsstaat kann seine Bürger einschließen wie in einem Gefängnis: Durch Überregulierung wie im Gewerberecht oder durch Parallelverfahren nach Bau-, Betriebsanlage-und Umweltrecht. Übertriebene Beschränkung der Privatautonomie im Zivilrecht bewirkt oft lange Verfahrensdauer, etwa die behördliche Festsetzung von Grundanteilen für Wohnungseigentum. Warum sollen Wohnungseigentumswerber nicht die Größe ihrer Grundanteile - in gesetzlichem Rahmen - vereinbaren können? Begulierung ja, Überregulierung nein!

Materielle Bechtsstaatlichkeit bedeutet Bindung der Bechtsordnung an Menschenrechte und Gerechtigkeit. Dem Staat, der formal-rechtsstaatlich das Menschenrecht der Freizügigkeit durch die Bestimmung, Erstanträge auf Aufenthaltsbewilligung nur bei seinen Vertretungsbehörden im Ausland zu akzeptieren, einschränkt, könnte das Kennzeichen materieller Bechtsstaatlichkeit fehlen.

Verständlich ist freilich die Bestimmung, daß der Nachbar von fremdem Grund überhängende Äste kürzen darf, um sein Grundrecht des Eigentums frei nutzen zu können. Verständlich auch, den Lauschangriff zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zuzulassen, um den Strafverfolgungsanspruch des Staates zu sichern. So können Beschränkungen garantierter Bechte sogar dem Rechtsstaat dienen.

Die vom Staat jedermann zu gewährenden Menschrechte, wie dies schon das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811 forderte, die den Bürgern zu gewährenden Grund- und Freiheitsrechte, die in den EU-Staaten zu gewährenden „vier Freiheiten" werden ihrerseits begrenzt: durch den sozialen Bechtsstaat. Die Kündigungsbeschränkungen nach Arbeitsrecht und jene nach Mietenrecht veranschaulichen die Einengung des freien Spielraumes der gesellschaftlichen Kräfte zum Schutz des sozial Schwächeren.

Grenzen des Bechtsstaates zeigen sich in der Mißachtung ethischer Forderungen an Gesetzgebung und Vollziehung. Unterläßt der Gesetzgeber Ausführungsgesetze, kann dies Bechts-verweigerung gleichkommen. Eine „Gegensteuerung" des Gesetzgebers als Antwort auf politisch nicht erwünschte Erkenntnisse der Höchstgerichte kann ebenfalls nach ethischen Werten untersucht werden.

Apropos Politik. Das Wecken von Hoffnungen auf Ansprüche, deren Verwirklichung nicht mehr finanzierbar ist, schadet der Achtung des Bechtsstaates besonders dann, wenn „wohlerworbene Bechte" durch gesetzliche Maßnahmen zurückgenommen werden müssen, wie in der sensiblen Sozialversicherung: Schlagbäume an Bechtsstaatsgrenzen in den Farben der Politik.

Die Vollziehung von Gesetzen gegen einen Teil der Bürger, gegen einen anderen aber nicht, bringt den Bechtsstaat genauso ins Zwielicht. Auch die Berücksichtigung unsachlicher Kriterien bei Ermessensentscheidungen stellt die Vollziehung auf den Prüfstand ethischer Wertung. Die unterlassene Vollziehung beschlossener Gesetze gibt den Bechtsstaat gar der

Lächerlichkeit preis. Hierher gehört das Wiener Verbot der Straßen Verunreinigung durch Haustiere oder, weniger dramatisch, die mangelnde Kontrolle von Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr. Der Bechtsstaat bringt sich vor seinen Bürgern selbst zu Fall.

Vielleicht verblüffend, aber nicht unschlüssig ist die Zuordnung von Bechtsberatung zur Vollziehung. In der Gesetzesflut ist Bechtsberatung Teil der Sicherung des Zuganges zum Becht. Sie muß institutionell gesichert sein und funktioniert nur dann, wenn der Bürger Vertrauen in sie setzt. Unabhängigkeit des Beraters und Recht auf Verschwiegenheit sind Voraussetzung hiefür. Rechtsberatung hat auch eine soziale und friedenserhaltende Funktion.

Von daher bestimmen sich Berufsethos der Bechtsberatung und jene Werte, denen sie verpflichtet ist individuelle Beratung, Interessenausgleich, Unparteilichkeit notarieller Bechtsvor-sorge, Streitverhütung, Bechtfertigung des Honorars durch Qualität. Die Freiberuflichkeit der Rechtsberatung sichert deren Unabhängigkeit, wie bei den Berufen des Notars oder Anwaltes.

Zurück zu den Grenzen des Bechtsstaates. Schlimm steht es dann, wenn etwas geregelt werden soll, obwohl die Regel faktisch nicht durchgesetzt werden kann. Wie soll der Staat von Ehepartnern die Beachtung von zwingenden Vereinbarungen über alle Facetten ihres Zusammenlebens verlangen, ohne dadurch Störungen ihrer Ehe zu verursachen, wie dies vor einiger Zeit gefordert worden ist? Wie will man im Familienrecht gesetzlich die Liebe der Kinder zu ihren Eltern erzwingen?

Was sind nun die Folgen von Überregulierung, Bürokratisierung, langer Verfahrensdauer, mangelnder Übersichtlichkeit der Bechtsordnung, lückenhafter Begelungen, Verlust von Menschlichkeit und Gerechtigkeit, Fehlen von Sozialgebundenheit und Mißachtung ethischer Anforderungen an Gesetzgeber und Vollziehung? Man kann es in den Gängen kafkaesker Behörden, vor den Schreibtischen herzmanovskyscher Bürokraten und an der Verzweiflung nestroyscher Untertanen erkennen. Es sind Ohnmachtsgefühle der Unverstandenen, Angst vor anonymen Apparaten, Vertrauensverlust, Selbsthilfeversuche und daraus gezeugt Mißachtung des Bechtes und des Bechtsstaates.

Dies führt zur Gefährdung von geordnetem Zusammenleben und sozialem Frieden. Das alles würde Bürgern zugemutet, deren Würde und Freiheit zu den wichtigsten Errungenschaften unserer gesellschaftlichen Entwicklung seit der Aufklärung zählen?

Der Autor ist

Öffentlicher Notar in Wien und Vorstandsmitglied der Notariatskammer.

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