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Bürger erster und zweiter Klasse?

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Die ungebildeten Bevölkerungsteile, die die äußerlichen Anzeichen der Zivilisation des 20. Jahrhunderts annehmen und denen gleiche bürgerliche Rechte zuerkannt werden, fühlen sich trotzdem benachteiligt, weil sie nicht dieselben Schlüsselpositionen besetzen wie Leute abendländischer Herkunft in Israel. Man beschwert sich, daß Orientalen zum Beispiel keine Fabriken leiten, ohne dabei zu berücksichtigen, daß man erst ein Universitätsstudium mit viel Vorbildung hinter sich haben muß, um eine Fabrik gut leiten zu können. Doch die wahre Gefahr besteht nicht in dieser Generation, sondern gerade bei deren Nachwuchs. Es ist anzunehmen, daß die Verbitterung der heutigen Generation und deren Minderwertigkeitskomplex nicht zu überbrücken ist.

Das Problem beginnt in der Schule

Das Problem beginnt Jedoch bereits in der ersten Elementarklasse. Kinder aus kultivierten Elternhäusern bringen bei Schuleintritt einen Wortschatz von zirka 2000 bis 3000 Wörtern mit. Doch Kinder, die aus einer primitiven Umgebung kommen, besitzen einen Wortschatz von nicht mehr als 200 bis 300 Wörtern. Diese Unterschiede sind so groß, daß die israelischen Schulbehörden der Ansicht waren, daß man sich nach dem Niveau der Kinder aus abendländischen Elternhäusern richten muß, damit bei Absolvierung der Elementarschulen alle israelischen Kinder ungefähr ein herkömmliches europäisches Bildungniveau erreichen.

Nach Absolvierung der untersten Elementarklasse stellte es sich aber heraus, daß die Kinder, die aus primitiven Elternhäusern kommen, nicht das Mindestniveau erreicht haben. Trotzdem werden sie in die nächste Klasse versetzt, um kein Diskriminierungsgefühl aufkommen zu lassen. Die Rückständigkeit der Kinder, die aus einer primitiven Umgebung kommen, wächst von Jahr zu Jahr, ohne daß die Möglichkeit besteht, das Versäumte in der Schule selbst gründlich nachzuholen. Eine Statistik, die dieser Tage in Israel veröffentlicht wurde, besagt: Mehr als 40 Prozent der Absolventen von Israels Volksschulen sind Analphabeten oder können nur notdürftig lesen und fehlerhaft schreiben. Obwohl fast die Hälfte der Bevölkerung orientalischen Ursprungs ist, sind nur acht Prozent der Gymnasialschüler orientalischen Ursprungs, und dieser Prozentsatz ist unter den Studenten an Israels Hochschulen noch um vieles kleiner.

Eine der vorgeschlagenen Lösungen dieses Problems war die Errichtung besonderer Schulen für primitive Bevölkerungsteile, um dadurch eine entsprechende Erziehung zu geben und nach zirka acht- bis zehnjähriger Erziehung das allgemeine Niveau zu erreichen. Dieser Vorschlag wurde aufs schärfste von den orientalischen Juden abgelehnt. Sie sahen darin eine nicht-gutzumachende Diskriminierung und behaupteten, man wolle sie dadurch für ihr ganzes Leben zu zweitklassigen Bürgern stempeln.

Anderseits lassen gerade die Kinder, die immer den zurückgebliebenen Teil ihrer Klasse bilden, ein Verbitterungsgefühl in sich aufkommen. Sie sehen nicht die Ursache ihres niedrigen Niveaus, sondern nur die Resultate und beschuldigen ihre „höher gestellten“ Mitbürger der Diskriminierung. In vielen Fällen ist dieses Minderwertigkeitsgefühl so stark, daß ein Teil dieser Jugend sogar zur Kriminalität neigt.

Das Unbehagen wächst

Die zweite Lösung, die auch von den gebildeten orientalischen Juden befürwortet wird, ist die Errichtung von Kinderheimen, in denen diese Jugend in einem kultivierten Lebensrahmen aufwachsen und die Erziehung dieser Jugend während 24 Stunden des Tages erfolgen soll. Diese Lösung erscheint zwar ideal, ist aber leider zu kostspielig, um vollständig durchgeführt zu werden. Eine teilweise Durchführung dieser Methode scheiterte in verschiedenen Fällen daran, daß sich gerade die primitiven Eltern weigerten, ihre Kinder von der Familie wegzugeben, auch wenn es sich um sehr kinderreiche Familien handelte, die in verhältnismäßig kleinen Wohnungen leben. Mancher Familienvater ist auch der Ansicht, daß, sobald sein Kind das 12. oder 15. Lebensjahr erreicht hat, es zum Unterhalt der Familie beitragen muß, und wenn ein Vater zwei oder drei Kinder in diesem Alter hat, so glaubt er auch oft, daß er bereits pensionsreif ist.

Eine teilweise Lösung wurde durch Israels Erziehungswesen dadurch gefunden, daß in diversen Elementarschulen „lange Schul tage“ eingerichtet wurden. Statt bis 12 oder 1 Uhr mittags zu lernen, halten sich die Kinder bis 4 oder 5 Uhr nachmittags in der Schule auf und machen dort unter Aufsicht ihrer Lehrer die Schulaufgaben, wobei sie auch verköstigt werden.

In der Zwischenzeit brodelt der Herd der Verbitterung und der Minderwertigkeitsgefühle, und verschiedene politische Elemente versuchen, aus dieser heiklen Situation politisches Kapital zu schlagen — ohne dabei die wahre Gefahr eines sozialen Klassenkampfes zu erkennen.

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