Auf dem Weg zu einer SORGE-KULTUR

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Pflege geht uns alle an: Der Bedarf ist steigend, die Ressourcen werden knapper. Zwei Projekte mit "Bürgerforschung" suchen Strategien für die Zukunft.

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Pflege geht uns alle an: Der Bedarf ist steigend, die Ressourcen werden knapper. Zwei Projekte mit "Bürgerforschung" suchen Strategien für die Zukunft.

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Die Konfrontation mit der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen kann uns in ungeahnter Weise verändern: "Der tägliche Umgang mit dem Vater ließ mich nicht mehr nur erschöpft zurück, sondern immer öfter in einem Zustand der Inspiriertheit. Die psychische Belastung war weiterhin enorm, aber ich stellte eine Änderung meiner Gefühle dem Vater gegenüber fest." So beschreibt der Schriftsteller Arno Geiger in seinem autobiografischen Werk "Der alte König in seinem Exil"(2011) eine seiner Erfahrungen, während er seinen Vater auf dem langen Weg der Demenz begleitet.

Neben solchen höchst persönlichen Einsichten stellen sich grundlegende gesellschaftliche Fragen: Wie wird Sorge um Mitmenschen organisiert? Wer wird für eine immer älter werdende Bevölkerung Sorgearbeit leisten? Dies sind angesichts der Altersentwicklung und verknappter Ressourcen brennende Themen: Sie zählen zu den "großen Herausforderungen", mit denen wir heute konfrontiert sind. Forschung, die sich damit auseinandersetzt, will soziale Veränderungsprozesse anstoßen und letztlich zu einem "guten Leben für alle" beitragen. Sie folgt einem Verständnis von Wissenschaft, das wir als Teil öffentlicher Auseinandersetzung verstehen.

Einblick in Sorgenetzwerke

Zwei Forschungsprojekte des Programms "Sparkling Science" bearbeiten das Thema "Sorge" nun in Forschungs-Bildungs-Kooperationen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schultypen, etwa einem Ausbildungszentrum für Sozialberufe, einer Gesundheits-und Krankenpflegeschule und einer AHS. Mit diesen Projekten sind junge Menschen eingeladen, mit einem Wissenschaftsteam der IFF (Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Wien, Graz) ihre künftige Rolle als Professionelle, aber auch ihre "zivile" Rolle als Bürgerinnen und Bürger im Kontext der "großen Herausforderungen" zu erkunden. Und für die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Forscher gilt ein Motto, das der Historiker Gert Dressel für die unterstützende Begleitforschung ausgegeben hat: "Ich forsche nicht über euch, sondern mit euch."

Ausgangspunkt des Projekts "Who Cares" ist die Erfahrung, dass Sorge und "Care" alle angeht: Alltägliches Leben ist nur möglich, wenn Menschen sich um sich selbst, aber auch um andere kümmern und "Sorge tragen". Große Unterschiede können beobachtet werden, wenn in konkreten Pflegesituationen näher gefragt wird: Wie werden anfallende Aufgaben verteilt? Wer übernimmt wofür Verantwortung? Genauer soll daher in den Blick kommen, wie es in Pflegesituationen gut gelingt, mit-und füreinander zu sorgen. Auch die Schwierigkeiten und Belastungen sollen sichtbar werden. Dies wird etwa über Interviews mit Personen, die Verantwortung tragen, erhoben. Ziel ist es, anschauliche Geschichten erzählen zu können, die Einblick in Sorgebeziehungen und -netzwerke geben.

Mütter und pflegende Töchter

Eine häufig vorkommende Situation ist, dass eine Tochter ihre Mutter pflegt. Da geschieht es immer wieder, dass die pflegende Tochter -auch wenn Geschwister da sind -mit der Verantwortung alleine gelassen wird. Die hohen Anforderungen können dann schwer werden. Wie, so eine wichtige Frage in einer solchen Situation, ist es möglich, dass auch andere Personen aus dem Umfeld in das Sorgenetzwerk mit einbezogen werden können?

Und dann stellt sich die große Herausforderung, wie auch künftig Sorgeaufgaben gerecht verteilt werden können. Pflegende Angehörige sollen mit ihrer Expertise in die Forschung einbezogen werden, um möglichst realistische Szenarien zu entwickeln. Zudem beschäftigt hier, wie eine breite Gruppe zum Mitforschen eingeladen werden kann -denn die Projekte zählen zu der vom Wissenschaftsministerium ins Leben gerufenen Initiative "Young Citizen Science". Die Idee dahinter: Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern kann zur Demokratisierung von Wissenschaft beitragen. Auch dies ist eine wichtige Vision für eine zukünftige Sorgekultur.

Das Projekt "Sustainable Care" wiederum behandelt das Thema aus einem neuen Blickwinkel und verbindet zwei gesellschaftliche Anliegen, die bislang meist getrennt behandelt werden: auf der einen Seite den sorgsamen Umgang mit Menschen, insbesondere älteren, schwer kranken, an Demenz leidenden und sterbenden Patienten, auf der anderen Seite einen verantwortungsvollen Umgang mit ökologischen, sozialen und finanziellen Ressourcen. "Bei etwas Großem dabei zu sein" - so drückte kürzlich eine Schülerin am Start-Workshop ihre Motivation aus, an dem Projekt mitzuarbeiten. Die Grundidee ist, Gesundheits- und Krankenpflegeschülerinnen (nach wie vor ist die Mehrzahl der Personen in Pflegeausbildung weiblich) dazu anzuleiten, "ihr" Krankenhaus nach Potentialen einer nachhaltigen Sorgekultur zu erkunden, aber auch zu fragen: Welche Bedeutung spielen ökologische Probleme wie der Klimawandel für die Kernorganisation des Gesundheitssystems?

Das "nachhaltige Krankenhaus"

Letzteres spricht eine paradoxe Situation an, mit der Krankenhäuser industrialisierter Länder konfrontiert sind: Ihre material- und energieintensive "Reparaturmedizin" belastet die natürliche Umwelt. Dies wirkt sich negativ auf die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen aus, mit denen Gesundheitssysteme und Krankenhäuser wiederum konfrontiert sind. Das heißt, Krankenhäuser tragen nicht nur zur Wiederherstellung von Gesundheit bei, sondern belasten auch die Gesundheit, indem sie ihre Kernfunktionen erfüllen. Diese Doppelrolle kann gut thematisiert werden, so die Erfahrungen aus Projekten zum "nachhaltigem Krankenhaus", wenn das Kerngeschäft von Krankenhäusern Ausgangspunkt der Überlegungen wird - in "Sustainable Care" ist das die Versorgung von Menschen am Lebensende. Gerade hier zeigt sich besonders deutlich, dass "weniger oft mehr" bedeuten kann.

Das Vorhaben soll somit einen Blick über den Tellerrand werfen und neue Zusammenhänge reflektieren, die in der Praxis des Spitalsalltags meist keinen Platz finden. Im Zentrum steht jedenfalls ein zukunftsweisendes Thema: die Bedingungen und die bislang ungenutzten Potenziale einer "sorgenden Gesellschaft".

Die Autorinnen forschen an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung in Wien

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