DAS ICH, UMKREIST WIE EIN FREMDKÖRPER

19451960198020002020

SEGMENTE EINER BIOGRAFIE: ANDREA SCRIMA ERZÄHLT EIN LEBEN, GEBAUT AUS ERINNERUNG UND FANTASIE.

19451960198020002020

SEGMENTE EINER BIOGRAFIE: ANDREA SCRIMA ERZÄHLT EIN LEBEN, GEBAUT AUS ERINNERUNG UND FANTASIE.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Eisenbahnstraße, die Bedford Avenue, die Fidicinstraße, die Kent Avenue, die Ninth Street sind Wegmarken in "Wie viele Tage". Sie geben Wohnadressen der Erzählerin an und stehen jeweils für einen Abschnitt ihres Lebens. Berlin und New York sind die Städte, zwischen denen sich die Fährnisse ereignen, die einer zustoßen, die ständig auf dem Sprung ist. Denn das stellt sich bald einmal heraus, dass wir es hier mit einem Leben zu tun bekommen, für das Ruhestellung nicht vorgesehen ist. Die Erzählerin arbeitet wie die Autorin des autobiografisch imprägnierten Romans auch als Künstlerin, bewirbt sich für eine Dozentur, der private Alltag stürzt über sie herein, und sie ist stets darauf bedacht, für sich einen Platz zu retten, der ihrem Ich gemäß ist. Selbst wenn sie sich auf den Beobachterposten zurückzieht, wo es sich eigentlich für einen selbst schonend einrichten ließe, wird die Erzählerin aus der Reserve geholt. Alles, was sie sieht, macht etwas mit diesem Ich, das sich stets in einer neuen Aufgeregtheit wiederfindet.

Aufgehobene Chronologie

Es geht sprunghaft zu in diesem Buch, das sich auf kleine Segmente einer Biografie konzentriert, die dafür detailgenau festgehalten werden. Chronologie wird aufgehoben, Linearität so im Vorfeld unmöglich gemacht. Eine Synchronizität der Ereignisse stellt sich ein, was deren Enthierarchisierung entspricht. Zeitebenen schieben sich ineinander zu einer Parallelität des Geschehenen. Das geht auch ganz in Ordnung so, denn immerhin wird im Rückblick berichtet, und mit der Perspektive eines gereiften Ich auf die Vergangenheit verliert das kontinuierliche Nach und Nach bis zum Hier und Jetzt an Bedeutung. Auf kleinstem Raum verändern sich Charakter und Atmosphäre eines Ortes. Die Erzählerin arbeitet im Atelier in Berlin, aus dem Radio ist von Heckenschützen in Sarajevo zu hören, draußen toben Kinder. Das ist die Faktenlage, um die sich das Fantasiemaschinchen im Kopf kein bisschen schert. Das nämlich malt sich umgehend Szenen von Kindern aus, die in einer Feuerpause nach draußen drängen und alsbald blutig geschossen werden.

Erinnerungen an glaubhaft Durchgestandenes, sowieso stets unkontrollierbaren Verwerfungen unterstellt, machen bei Andrea Scrima allenfalls einen Teil der inneren Wahrheit eines Menschen aus. Die ist ohne Träume, Einbildungen und Verbiegungen des Erlebten nicht zu haben. Die Vorgangsweise entspricht einem Malen auf großer Fläche und nicht dem Erzählen als einem linearen Akt. Immerhin gibt die Autorin dafür einmal die Methode vor. An einer Stelle nämlich erfahren wir, wie sie für ein Bild Schicht auf Schicht legt, und alle sind gleichzeitig vorhanden.

Das passt gut zu ihrem Schreiben, das auch Erinnerungsschicht auf Erinnerungsschicht legt, und in der Gesamtheit erst machen sie den ganzen Menschen aus. Eine Farbe wird verdeckt durch eine andere, über die die nächste gelegt wird - es ist für das Auge nicht auszumachen, was sich alles unter der Oberfläche angesammelt hat. Vorhanden ist es deswegen trotzdem.

Erinnerung und Freilegung

Um an das Verborgene heranzukommen, bedarf es der Arbeit der Freilegung. Erinnerung leistet Freilegungsarbeit, und sollte Werkzeug verfügbar sein, lässt sich an der Oberfläche kratzen. So bekommen wir wenigstens einen flüchtigen Eindruck davon, was sich in den unzugänglichen Tiefen eines Bildes abspielt. Um wieviel brisanter wird der Schürfvorgang erst, wenn man sich nicht mit der Materialität von dick aufgetragenen Farben zufrieden gibt, sondern in die Abgründe der Seele schleicht! "Ich schließe die Augen und stelle mir vor", heißt es an einer Stelle, in der Andrea Scrima als eine Fürsprecherin des Möglichen, der Wahrscheinlichkeit, des Erfundenen vorstellig wird. Was auch immer gewesen ist, jedes Buch schafft Wirklichkeit neu auf der Basis dessen, was sich in der so schwer fassbaren Innenwelt des Verfassers abgelagert hat. Ein Einwurf als ständiger Begleiter durch das Scrima-Buch lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass es mit einer einfachen Abfolge eines Realismus des bedächtigen unumkehrbaren Nacheinanders nicht getan ist: "doch das kam später", lautet die Warnung, dass eine Erinnerung von Momentaufnahmen aus einer anderen Zeit ständig attackiert wird. Andrea Scrima setzt auf den sanften Gleiteffekt, der die Erzählerin unvermutet in andere Zeitebenen versetzt. Es ist ein Ge schiebe um die Wirklichkeit, dass jeder Versuch einer Festlegung im Vorfeld obsolet erscheinen muss. "Wie kommt es, dass ich es nicht vorher gesehen habe", heißt es an anderer Stelle, schon wieder ein Hinweis darauf, dass, sobald etwas lange Übersehenes plötzlich in den Blick gerät, die Wirklichkeit eine andere Gestalt annimmt.

Ein rätselhaftes Ding

Die Szenen, angesiedelt an konkreten Adressen, die dem Buch Bodenhaftung verschaffen, werden flankiert von kürzeren Passagen reflexiver Natur, in denen ein Ich Selbstüberprüfung anstrebt, intensiv Auskunft über eigenes Denken und Fühlen erteilt. Das eigene Ich wird umkreist wie ein Fremdkörper, ein rätselhaftes Ding, das sich nicht recht erschließen lässt. "Ein Blick, mehr nicht, und eine stille Lawine gerät in Bewegung, eine stumme Katastrophe." So könnte eine Poetik beginnen, die davon ausgeht, wie aus etwas scheinbar Harmlosem etwas Bedrohliches entsteht. Das Bedrohliche im konkreten Fall rührt daher, dass der Blick auf äußere Anzeichen angewiesen ist, aus denen er ein Ganzes formt. Das Problem - Lob der Fantasie hin, Kritik der Fantasie her -besteht darin, dass sich ein Individuum aus diesen Kürzeln einer Beobachtung nicht definitiv benennen lässt. Wahrheit ist eben nicht so leicht aus der reinen Anschauung zu haben. Gestehen wir es jedem zu, für den anderen Fragment bleiben zu dürfen. Das ist ohnehin schon sehr viel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung