Die Volksschule für Kunst

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Während der Schulschluss seit der Pisa-Studie noch mehr Nerven von noch mehr Menschen ruiniert, entwickelt sich eine aufgeregte Suche nach Lösungen und Verbesserungen.

Daran, dass das Lesen wieder mehr Spaß machen sollte, denken viele. Aber das eigentliche Lesenlernen, die Beschäftigung mit dem Buch, beginne ja schon lange vor der Einschulung. Und was in den ersten Lebensjahren versäumt worden sei, sei kaum mehr aufzuholen.

Erfahrung mit Geschichten

Lesenlernen also bereits im Kindergarten? Mit dem Bilderbuch? Ja, wenn unter "Lesenlernen" verstanden wird, dass bestimmte Zeichen erkannt und mit einer Bedeutung in Zusammenhang gebracht werden; wenn es - zum Beispiel - um das richtige "Lesen" von Verkehrstafeln oder Icons am Computer oder um das Lesen von Spuren geht oder von Wolkenbildern oder - ganz allgemein - von Bildern. Es geht um die frühest möglich einsetzende und lustbetonte Schulung von Wahrnehmung. Und um die Erfahrung mit Geschichten.

Das Bebildern von Geschichten, vor allem von biblischen Geschichten, diente ursprünglich selbstverständlich der Weitergabe von Inhalten an Nichtleser - eine Funktion, die heute noch bei Gebrauchsanweisungen für Analphabeten auf der ganzen Welt hilfreich ist.

Eine literarische Gattung

"Für Nichtleser" bezeichnet in unserer Gesellschaft jedoch einen Mangel, mit dem das Bilderbuch rasch der Zielgruppe der kleinen Kinder vorbehalten blieb. Dabei wird vergessen, dass das Bilderbuch zuallererst einfach nur eine Gattung ist, eine künstlerische Ausdrucksform, die durch das enge Zusammenspiel zwischen Bild und Text gekennzeichnet ist. Das Wie dieses Zusammenspiels ist ebenso vielfältig, wie die mögliche Themensetzung, die Wahl von Technik und Stilrichtung, die Adressierung der Zielgruppe. Die Verbindung von Text und Bild im Bilderbuch ist eine explizit eigenständige Kunst, in der Text- und Bildebene unterschiedlichste Verbindungen eingehen können: Das Bild begleitet, "illustriert" den Text, sie ergänzen oder aber konterkarieren einander.

Die Illustration ist im Unterschied zum autonomen Bild definiert durch diese Bezugnahme zum Text, zur Geschichte, die erzählt werden soll. Illustration ist in hohem Maß "narrativ": Sie sucht den Dialog mit den Betrachtern, sie ist Teil einer Kommunikation, die zwischen Bild und Betrachtern entsteht, die aber auch von Bild zu Bild weitergegeben wird - manchmal in eigenständigen kleinen Seitengeschichten, die auf der Textebene keine Entsprechung haben.

Collage und Materialienmix, Mischtechnik und Comics-Elemente, Fotobearbeitungen und Computergrafik - mittlerweile finden im Bilderbuch die Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts Eingang und werden in großer Vielfalt rezipiert, ja von Spezialisten wie Anthony Browne oder Yvan Pommaux werden große Vorbilder sogar in konkreten Bildern lustvoll zitiert: Da findet sich Mona Lisa in erstaunlichen Verkleidungen neben Andy Warhols Suppendosen; und neben Dürers Hasen sind die surrealistischen Bilder eines René Magritte am beliebtesten.

Mit Dürer und Magritte

Dabei gilt zunehmend sowohl für den Text als auch fürs Bild: Nicht alle Anspielungen müssen für die Kinder verständlich sein, manche davon sind durchaus an mitlesende Erwachsene gerichtet! Der Zugang zur Geschichte wird den Kindern keineswegs verstellt, den Erwachsenen aber sehr wohl ein zusätzlicher Spaß vergönnt. Polyvalenz oder Mehrfachadressierungen in diesem Sinn eröffnen insbesondere dem Bilderbuch neue Fangruppen. Neben den Kindergarten- und Grundschulpädagoginnen entdecken zunehmend Eltern ihre Chance, aber auch Lehrer und Lehrerinnen höherer Schulstufen: Im Deutsch- wie auch im Religions- oder Philosophieunterricht und in der Kunsterziehung finden sich immer häufiger Menschen (Erwachsene, Kinder und Jugendliche), die mit glänzenden Augen und offener Begeisterung das Potential von Bilderbüchern für ihre Interessen nutzen.

Und immer mehr Bilderbuchschaffende wagen es gemeinsam mit ihren Verlagen, diese neuen und zusätzlichen Gruppen auch zu bedienen: Besonders deutlich kann diese Entwicklung bei den so genannten abc-Büchern verfolgt werden. Was einst dem Erlernen der Buchstaben unseres Alphabetes gewidmet und mit mancherlei Abbildungen didaktisch unterstützt war, hat sich längst zu einem beliebten Spiel mit den Buchstaben entwickelt. Die Buchstaben von A bis Zett haben sich als Strukturelement verselbständigt, inspirieren mit ihrer Ästhetik und als Bedeutungsträger Künstler und Künstlerinnen.

ABC-Bücher

Die strenge Abfolge des Alphabets einerseits und die schier unendliche Assoziierbarkeit von Gegenständen und Begriffen oder ganzen Kontexten andererseits eröffnen kreative Spielräume.

Viele der modernen Bilderbuch-Illustratoren und Illustratorinnen haben sich in der Liste der ABC-Bücher bereits eingetragen: Nikolaus Heidelbach mit seinen tiefsinnigen und manchmal bösen Einblicken in die Seelenlandschaften von Jungs und Mädchen ("Was machen die Mädchen?" und "Was machen die Jungs?"), Chris van Allsburg mit seinen dramaturgisch inszenierten Buchstaben-Auftritten ("Das Z zerplatzt"), Renate Habinger gemeinsam mit Linda Wolfsgruber in einer lustvollen Gemeinschaftsproduktion über märchenbezogene Assoziationen ("Es war einmal - von A bis Zett") oder Linda Wolfsgrubers jüngstes Beispiel für eine Geschichtenfindung, die dem Anfangsbuchstaben Z gewidmet ist ("Zwei x Zwirn").

Bilder, die stehen bleiben

In allen diesen und vielen anderen Beispielen erweist sich das Bilderbuch als eine oder genauer als die Grundschule der Künste.

Dieses Potenzial besitzen Bilderbücher aber auch aus einem weiteren, besonders in unserer Medienlandschaft wichtigen Grund: Bilder im Bilderbuch laufen nicht davon - sie bleiben stehen, um sich einer genauen Betrachtung zu stellen.

Man kann voraus- und zurückblättern, um sich zu vergewissern; man kann Bilderbücher beliebig oft hervorholen, in den Bildern das Vertraute immer wieder neu entdecken und/oder erweitern. Fähigkeiten, die in der schnelllebigen Welt - auch - der Kinder immer gefragter und "gebrauchter" werden.

Voraussetzung dafür sind allerdings Bilder, die mehr als ihre Oberfläche zu bieten haben. Bilder, die nicht an der Lebenserfahrung der Kinder vorbei lieblich-idyllische Welten produzieren, sondern die Kinder in ihren Erfahrungen ernst nehmen: Kinder haben Anspruch auf anspruchsvolle (Bilder-)Bücher.

Nicht unbedingt bitterernst

Anspruchsvoll ist nicht gleich bedeutend mit kompliziert und bitterernst. Anspruchsvolle Bilderbuchkünstlerinnen und -künstler verstehen ihr Handwerk und machen keine Abstriche davon. Sie können komplexe Zusammenhänge anschaulich darstellen ohne zu simplifizieren; sie betreiben Einfachheit und Reduktion, um ihre künstlerische Aussage zu präzisieren und auf den Punkt zu bringen. Einfachheit ist zu einer zentralen Kategorie geworden, die in der Reduktion und Verständlichkeit auch künstlerische Erfüllung sucht und findet.

Die Autorin ist Leiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur der Erzdiözese Wien.

Abbildung auf Seite 21 aus:

Stimmen im Park

Von Anthony Browne

Übersetzung: Peter Baumann

Lappan Verlag, Oldenburg 1998

geb., e 16,40

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