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Getrimmtes Kind

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Der geneigte Leser wird höflich gebeten, sich einen festen Stand oder noch besser einen bequemen Sitz zu suchen, sich zu konzentrieren und die nachfolgend geschilderten Positionen vorzustellen, den Versuch aber sofort abzubrechen und zwei Absätze tiefer weiterzulesen, falls sich ernstere Anzeichen von Schwindelgefühlen einstellen sollten.

Denn der Schneemann hält den schwarzen Spazierstock einmal in der linken Hand und einmal in der rechten Hand, und der Griff des Spazierstockes weist einmal nach innen und einmal nach außen, aber damit nicht genug, weist einmal die rote Karottennase eines Schneemannes, der den schwarzen Spazierstock mit nach innen weisendem Griff in der rechten Hand hält nach links, dann wieder die rote Karottennase eines Schneemannes mit schwarzem Spazierstock mit nach außen weisendem Griff in der linken Hand nach rechts.

Um das Verständnis der Kinder für räumliche Begriffe, wie innen, außen, rechts, links, oben, unten, offen, geschlossen und so weiter, noch besser zu schärfen, hat ein Schneemann mit nach links weisender roter Karottennase und schwarzem Spazier- stöck mit nach außen weisendem Griff in der rechten Hand den schwarzen Zylinderhut auf dem linken Scheitel und ein Schneemann mit nach rechts weisender Karottennase und nach innen weisendem Griff des in der linken Hand gehaltenen schwarzen Spazierstockes den Zylinder auf dem rechten Scheitel, und wer sich da nicht zurechtfindet, der folgt besser der Empfehlung im beigepackten Merkheft, die Fähigkeit der optischen Differenzierung zunächst am viel einfacheren Beispiel der gelbbraunen Biene zu üben, die einmal einen rechts vom kleinen grünen Apfel mit dem nach links gebogenen Stengel und dem nach rechts weisenden Blatt angeordneten großen roten Apfel mit nach rechts gebogenem Stengel und nach links weisendem Blatt von rechts nach links umschwirrt und dann wieder von links nach rechts um einen links vom kleinen grünen Apfel mit nach rechts gebogenem Stengel und nach links weisendem Blatt angeordneten großen roten Apfel mit nach rechts (oder links) gebogenem Stengel und nach links (oder rechts) abstehendem Blatt kreist — wenigstens weist das Blatt immer nach links, wenn der Stengel nach rechts gebogen ist und umgekehrt, klar?

Es gibt jeweils 16 Möglichkeiten. 16 Schneemänner mit Zylinderhüten, Karottennasen und Spazierstöcken auf der einen Tafel, 16 gelbbraune Bienen, 16 grüne und 16 rote Äpfel auf der anderen, 16 Kreise mit verschiedenfarbigen Sektoren auf einer dritten und so weiter — und dazu jeweils 16 Karten. In der Praxis ist die Sache sehr viel einfacher — genauso, wie ja auch kaum jemand mit Worten beschreiben kann, wie er sid^j täglich und automatisch, , die, Krawatte bindet. Das beschriebene Spiel heißt „schau genau“ (shape-up, regarde bien, guarda bene, kijk goed) und kommt, fast möchte man sagen selbstverständlich, aus Ravensburg. (DM 16.80.)

Es handelt sich um eines jener Kinderspiele, an denen sich die Geister der Erwachsenen scheiden. Sollen Kinder vor dem Schuleintritt lernen? Wieviel sollen Kinder im Vorschulalter lernen? Was sollen sie lernen?

Immer mehr Kinder können heute mit vier, fünf Jahren so gut lesen und schreiben wie ihre Eltern in der Mitte wenn nicht gar am Ende der ersten Volksschulklasse. Immer mehr Kinder spielen mit den bekannten „Logischen Blöcken“ und wissen mit vier, fünf Jahren Rechtecke von Quadraten zu unterscheiden, addieren bis zum Ergebnis 10 oder darüber hinaus, tasten sich in die Anfangsgründe der Mengenlehre vor. Lesebücher für Vorschulkinder (allen voran die Serie der „Otto-und- Eva“-Bände) erreichen respektable Auflagen. Und ambitionierte Spezialgeschäfte für pädagogisch wertvolles Spielzeug wie in Wien die „Spielzeugschachtel“ finden immer mehr überzeugte Anhänger.

Auf der anderen Seite gibt es eine große Zahl gestörter Kinder: Gestört, weil die Eltern zuwenig Zeit haben, gestört, weil es in der Ehe der Eltern nicht stimmt, oder aber durch das Handikap der Legasthenie, dessen Auswirkungen oft durch verständnislose Lehrer oder ein zuwenig flexibles Schulsystem potenziert werden, belastet. Bestimmte Gesellschaftsspiele mit pädagogischem Effekt erleichtern die Früherkennung kindlicher Lern- und Verhaltensstörungen — und können gleichzeitig therapeutisch eingesetzt werden.

Unabhängig von der Streitfrage, ob man Vorschulkindern die Wege zum spielerischen — niemals forcierten! — Lesenlernen ebnen soll, sind die Kinderpsychologen und Pädagogen heute weithin der Meinung, daß man von Büchern und Gesellschaftsspielen für Kinder viel mehr verlangen kann und muß als vor zehn, zwanzig Jahren. In deutschsprachigen Landen hat der Otto-Maier- Verlag in Ravensburg heute auf dem Gebiet des ausgeklügelten pädagogischen Spielzeugs eine einsame Spitzenstellung. In Kombinationskästen, wie „Schritt für Schritt — Ravensburger Vorschule“ (DM 38.—), werden bekannte Spiele wie Domino mit neu erdachten Brett- und Kartenspielen zu einem Test- und Förderungsprogramm vereinigt, das soziales Verhalten einübt, Zeit- und Ordnungsstrukturen vermittelt, den Wortschatz erweitert und an Hand eines Fragebogens die Beurteilung der einzelnen Kinder durch Eltern oder Erzieher erleichtert: Hört das Kind bei der Erklärung eines Spieles ruhig zu, ist es unruhig, aber noch beherrscht, bricht es aus? Muß es manchmal erinnert werden, wenn es an der Reihe ist? Anerkennt es eine Entscheidung des Spielleiters immer, nicht immer, nie? Nimmt es das Verlieren mit Anstand hin?

Es gibt Spiele, in denen aufgeweckte Vier- oder Fünfjährige besser abschneiden als die meisten Erwachsenen. Dazu gehört vor allem die Gattung der ebenso einfachen wie raffinierten Memory- oder Pärchenspiele. Ein echter, großer Wurf ist das „Pärchenspiel“ des österreichischen Graphikers Ernst Insam (ö. S 25.—). Ein Haufen kleiner Karten mit knallbunten, scheinbar primitiven, aber offenbar mit ebensoviel Überlegung wie Schwung hingepinselten Bildchen von Flugzeugen, Piloten, Clowns, Trommlern, Tigern, Keglern, Fußballern, Bäumen, abstrakten Motiven und so weiter, jedes Motiv doppelt. Die Karten werden gemischt und mit der Rückseite nach oben aufgelegt, jeder Mitspieler darf zwei Karten aufdek- ken — erwischt er zwei gleiche, gehören sie ihm, und er darf noch einmal zwei Karten aufdecken. Erwischt er ungleiche, werden sie wieder umgedreht, aber an ihrem Platz gelassen. Es kommt darauf an, sich den Standort möglichst vieler der kurz aufgedeckten Karten zu merken.

Der Otto-Maier-Verlag geht einen Schritt weiter — er entwickelte, unter dem Markennamen „Memory“, zahlreiche solche Spiele, darunter ein „Verkehrs-Memory“, bei dem zwar auch immer zwei Karten zusammengehören, jedoch die eine auf der Vorderseite die Großdarstellung eines Verkehrszeichens, die andere ein Photo dieses Verkehrszeichens irgendwo mitten im Verkehr trägt. (DM 9.80.)

Während Lernbücher, Lernspiele und Förderungsspiele zu beachtlicher

Perfektion entwickelt werden konnten, scheint das Kinderbuch noch immer auf der Suche nach seiner tieferen Identität begriffen. Bedeutenden graphischen Leistungen steht oft ein etwas krampfiges Bemühen um „Kindlichkeit“ der Erzählweise und des Erzählten gegenüber, und ganz große Glücksfälle wie das Buch „Wie der Elefant seinen Rüssel bekam“ vom Büchler-Verlag in Wabern, Schweiz (S 97.70) sind sehr selten. Die Geschichte ist aber auch von Rudyard Kipling — dank den Illustrationen von Heinz Looser sollte diese Ausgabe zum Evergreen für die nächsten zwanzig Jahre werden. Daß irgend jemand Kiplings Geschichte besser illustriert, ist kaum zu erwarten. Dank seinen entzückenden Aquarellen (diese angeblich antiquierte Illustrationsweise ist also doch nicht tot!) darf man auch „Papa Kuchenback und Zig der Scherenschleifer“ von H. U. Saas aus demselben Verlag empfehlen — obwohl hier die Welt ein bißchen gar zu arg noch in Ordnung ist. Leute, die mehr zum Leitbild Von der behüteten und abgeschirmten Kindheit neigen, werden diesem Buch viel Liebe entgegenbringen. Der Verlag Otto Maier zählt, etwa mit dem Kinderbuch „Das rote Pferd“ von Grieder/Schnei- der auch auf diesem Gebiet zur Vorhut.

Eine recht nette, von Katrin Brandt ansprechend illustrierte „Raupengeschichte“ (Text: Achim Bröger) kommt aus dem Atlantis- Verlag, Zürich, ebenso Wolf dietrich Schnurres von Marina Schnurre illustrierte Erzählung „Wie der Koala-Bär wieder das Lachen lernte“ (DM 11.80 beziehungsweise 13.50). Während das Buch „Die Höhle Widuwilst“ von Ulf Lofgren (Atlantis, DM 12.80) in Text und Illustration etwas blaß bleibt (die Anpassung an „das Kindliche“ ist da nicht ganz gelungen), gelang mit „Pferde“ (Atlantis, DM 13.80) ein informatives Sachbuch für Jugendliche.

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