DIE ZEIT UNTERBRECHEN

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SCHRIFTSTELLER, KUNST-KRITIKER, KULTURHISTORIKER, MALER UND ZEICHNER: JOHN BERGERS LITERATUR IST EBENSO LESENSWERT WIE SEINE ESSAYS ÜBER KUNST.

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SCHRIFTSTELLER, KUNST-KRITIKER, KULTURHISTORIKER, MALER UND ZEICHNER: JOHN BERGERS LITERATUR IST EBENSO LESENSWERT WIE SEINE ESSAYS ÜBER KUNST.

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"Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab, das mußt du wissen", sagt die verstorbene Mutter, der John in Lissabon begegnet, und Lissabon ist dabei "nicht irgendein Ort, mein Junge, sondern der, an dem man sich begegnet." Was sich in John Bergers Prosaband "Hier, wo wir uns begegnen" (2005) wie die natürlichste Sache der Welt liest, nämlich Begegnungen und Gespräche mit Toten, ist auch sonst möglich in seinen Texten. So wird der Gegenwart - jener Zeit, die, wie John Berger meint, flüchtig ist wie nie eine Zeit zuvor - etwas anhaltend entgegengesetzt. Das Gefängnis Zeit wird verlassen, und wenn der Ich-Erzähler durch viele Städte streift, in denen er zeichnet, liest und redet, ist es vor allem die Wahrnehmung und wie darüber geschrieben werden kann, die begeistert.

Kunst der Wahrnehmung

Die Kunst der Wahrnehmung hat der Autor gelernt, das Schreiben kam dann noch dazu: Geboren 1926 in London, studierte Berger Kunst und arbeitete später als Kunstkritiker. Neben seinen literarischen Werken verfasste er viele Essays und Bücher über Kunst und Wahrnehmung, über das Schauen und die Sichtbarkeit, darunter "Ways of Seeing"(1972) und "About Looking"(1980). Wie großartig John Berger über Kunst zu schreiben weiß, lässt sich auch in seinem jüngst erschienenen Buch "Bentos Skizzenbuch" nachlesen, in das einige seiner bereits in Zeitungen erschienenen Essays eingeflossen sind. Der Titel greift den Namen des Philosophen und Linsenschleifers Baruch Spinoza auf ("Bento"), dessen Reflexionen Berger weiterspinnt. Die Texte, aus denen das Buch offensichtlich zusammengefügt wurde, ergänzen Bergers Zeichnungen, darunter ein Blick auf Maria Magalenas Hände in einem Bild von Perugino.

Mittendrin findet sich eine kleine Poetik: Der Autor beobachtet zwei Arten zu tanzen, denkt davon inspiriert über unterschiedliche Arten zu erzählen nach und meint zwei Hauptkategorien auszumachen: "die einen, die im wesentlichen etwas hervorheben, das verborgen ist, und die anderen, die etwas Offenbargewordenes betonen". Welche eigne sich besser, fragt Berger, "um von dem zu erzählen, was sich heute in der Welt ereignet?" Er kommt zur Antwort: die erstere. "Denn diese Geschichten bleiben unvollendet. Ihnen geht es um Teilhabe. (...) Für sie ist das Geheimnis nicht etwas, das gelöst, sondern etwas, das bewahrt wird."

Schreiben und Zeichnen scheinen dabei gar nicht so unterschiedlich. "Zeichnen ist eine Art Ausprobieren. Der angeborene Impuls zu zeichnen entstand aus dem menschlichen Streben, etwas zu suchen, Punkte zu setzen, Dingen einen Platz zu geben, sich selbst einen Ort zu geben". Wenn Berger über das Zeichnen räsoniert, es gehe "genauso um das Weglassen wie um das Hinzufügen", und feststellt, dass wir nicht nur zeichnen, "um etwas Sichtbares für andere zu erschaffen, sondern auch, um etwas Unsichtbares an seinen ungewissen Bestimmungsort zu begleiten", so gilt das wohl genauso für das Schreiben. Leicht variiert findet sich der Satz bald wieder: "Wir zeichnen nicht nur, um etwas Beobachtetes für andere sichtbar zu machen, sondern auch, um etwas Unsichtbares an seinen ungewissen Bestimmungsort zu begleiten." Wenn Berger beschreibt, wie Motorradfahren und Zeichnen zusammenhängen und dabei die Bewegung betont ("Du fährst eine Zeichnung."), werden die Zusammenhänge ebenso sichtbar, wie wenn er das Verwischen einer Linie in Worte fasst: "Was auf der einen Seite der Kontur ist, hat dem, was auf der andere Seite der Kontur ist, die Zunge in den Mund gesteckt. Und umgekehrt."

Poetik und Wahrnehmung sind bei Berger nie unpolitisch. Sein Interesse ist im Migranten- und Großstadtroman "Flieder und Flagge" (1991), der auf einem Totenschiff endet, ebenso zu erkennen wie im Briefroman "A und X" (2008), der in ein totalitäres Regime führt. Die Reaktion auf den Booker Prize, den er 1972 für seinen Roman "G" erhielt, ist heute ebenso legendär, wie sie damals verstörend war: Berger überließ die Hälfte seines Preisgeldes der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung "Black Panther".

In einer Würdigung des Schriftstellers in der Welt zitierte Michael Kleeberg aus einem Interview mit John Berger. Gefragt, ob er mit seinem Roman den Menschen ihre Würde zurückgebe, widersprach Berger: "Nein, ich wollte zeigen, dass sie eine haben." Das macht Berger in literarischen Kleinoden wie "Auf dem Weg zur Hochzeit" (1996), in dem die Braut aidskrank ist, ebenso wie in kleinen Porträts, die er auch im Skizzenbuch verstreut, etwa jenes über seinen ersten Verleger in Dresden oder das berührende von Luca, "der in einem Vorort im Südosten von Paris lebt."

Kritische Blicke auf das Zeitgeschehen

Auch in "Bentos Skizzenbuch" finden sich kritische Blicke auf das Zeitgeschehen, etwa die Überwachung im Supermarkt, den systematischen Diebstahl durch das Management und "die Gesichter der neuen Tyrannen. Ich zögere, sie Plutokraten zu nennen, denn dieser Ausdruck klingt zu historisch, und die Männer sind Teil eines Phänomens, zu dem es keine Vorläufer gibt. Einigen wir uns auf Profiteure". Berger stellt sich die Frage der Fragen politisch engagierter Menschen: Oft bleiben Proteste folgenlos, wie kann man damit leben?

Vielleicht das Wort "folgenlos" nicht zeitlich denken, sondern räumlich, räsoniert Berger: "Um dem näher und näher zu kommen, was von der Gegenwart erlöst werden kann in den Herzen der Menschen, die sich ihrer Logik entziehen. Einem Geschichtenerzähler kann das manchmal gelingen. (...) Erzählen ist eine andere Art, einen Augenblick unvergänglich zu machen, denn wenn die Geschichten gehört werden, unterbrechen sie den unablässigen Lauf der Zeit und setzen das Adjektiv folgenlos außer Kraft."

Ergänzen könnte man diese Kürzestpoetik in einem Satz mit einem weiteren: "Hoffnung ist heute Schmuggelware, die von Hand zu Hand und von Geschichte zu Geschichte weitergereicht wird."

Bentos Skizzenbuch

Von John Berger. Aus dem Engl. von Hans Jürgen Balmes. Hanser 2013 176 S., geb., € 20,50

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