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Boot des Gharon

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Der ungarische Lyriker, Romancier, Dramatiker und Essayist Gyula Illyes legt uns hier sein Alterswerk vor, geschrieben zu seinem 70. Geburtstag mit der Absicht, sein Alter schreibend und denkend zu verstehen: schonungslos und doch voller Charme, von kompromißloser Strenge und doch voll Humor, der auch über sich selbst zu lachen versteht. „Die Fesseln des Kalenders sprengen ... damit wir uns irgendeine Freiheit, eine Autonomie, erkämpfen gegenüber dem barbarischsten, ungebildetsten, geschmacklosesten Verletzer unserer Grenzen, gegen die Zeit.“

Gegen die Zeit mit ihrer Wichtigtuerei, mit der sie ihr eigentliches Problem, das Skandalon des Todes, zu übertönen versucht. Eine Aufgabe für jung und alt, eine Aufgabe, die bereits mit der Geburt beginnt, eine Aufgabe, die die wahre Revolution einleitet: sich selbst einzufordern. „Wie würdest du den Revolutionär definieren? Derjenige, der bereit ist, auch für sich selbst logisch und unbarmherzig die Konsequenzen zu ziehen.“ Doch nicht in der harten Un-barmherzigkeit von Bert Brechts „Maßnahme“, die in Unmenschlichkeit mündet, sondern mit etwas, das „an Hoffnung grenzt“.

„Als Abgott der Jugend gelten, ist, ob man will oder nicht, eine linkische Situation. Von denen, die ich in jungen Jahren als Abgötter verehrte, wünschte ich mit reifendem Verstand, daß sie mir himmlische Hilfe bieten, und dann — als sie nicht eintraf, daß sie sich mir aus dem Weg trollen mögen, aber rasch, damit ich meine Sache selber besorge.“

Meine Sache selber besorgen als Dichter: „Und was sagen denn die Dichter in dieser ihrer merkwürdigen Sprache“ durch das Stimmengewirr zweier Jahrtausende hindurch, in das sich Philosophen, Theologen, Politiker durcheinandermischen, das den Dichter hinauskomplimentiert und vertreibt, was sagen sie? „Daß du dich widersetzen solltest.“ Den falschen Dichtern, die sich im Goldschnitt ihrer gesammelten Werke selbst zelebrieren; den Tyrannen, von denen die neuzeitlichen kleiner sind als die alten, denn sie sind vor allem geschmacklos; den

Karrieristen des Erfolgs- und Geschäftsdenkens. Für diese letzte Sorte bringt Illyes ein erschütterndes, wohl wenig bekanntes Beispiel: nicht Intoleranz hat Baudenkmäler und Kathedralen zerstört, sondern „diese wurden auf Grund des Wertes des in ihnen vorhandenen Steinmaterials veräußert... Cluny ist Jahre hindurch ein vielgefragter Steinbruch gewesen... durch die Zerstörungswut derer, die sich be-

reichern wollten“. Im Geiste wahrer Dichtung allein besteht und übersteht der Mensch, wie es Illyes gelegentlich eines Englandaufenthaltes am Beispiel Shakespeares darlegt.

Und was sagen die Dichter noch: „Daß der Tod zwar herrscht, aber nichl^ recht hat.“ „Je geschliffener unsere Vernunft ist, um so weniger ist sie imstande, den Tod zu verstehen.“ Ihn kann nur der Dichter im Menschen überwinden. Und hier stehen die herrlichsten Sätze von Illyes, hier spricht sein europäischer Geist. Er kennt Frankreich, England, Italien, Deutschland, Rußland, kennt ihre Philosophien und Weltanschauungen, tastet sie ab, tastet auch die Antworten der Religionen ab, die er in ihrer praktizierten Kurzschlüssig-keit kritisiert; als revolutionärer Marxist kennt er auch die Antworten der Politiker, auch sie vermögen die Zukunft nicht zu sichern: „Aber

selbst das Leben des ganzen menschlichen Geschlechtes ist nicht ewig gesichert. Im Gegenteil. Was begonnen hat, muß auch ein Ende haben. Machen wir uns doch nichts vor.“

Das Kapitel, in dem diese Sätze stehen und das „Disput mit W.“ heißt, gehört zum faszinierendsten. Illyes ist sich bewußt, daß er keine endgültigen Antworten geben kann, doch er will „lebendige Antworten“ geben, „mit einer Ausdauer, die bereits an Hoffnung grenzt“.

„Charons Boot beginnt nicht die Reise mit uns, wenn erst das Auge sich schließt und erstarrt. Ein trüber Gast, befahren wir lang schon offenen Augs den schicksalhaften Strom“, mit diesem Gedicht beginnt das Buch. „Weise, wer lächeln kann auf dieser lustvollen Fahrt.“ „Glaubt, daß der Tod besiegbar ist: auch wenn

ich, siehe da, gefallen bin. Auch wenn wir alle fallen; ausharrend, einsame Nachhut, bis ans Ende, wie wir es gelobt haben.“ Es gibt Bücher, die man besser nicht rezensiert, sie gehen so unter die Haut, daß sie am besten für sich selbst sprechen. Daher die zahlreichen Zitate. Man muß dem Übersetzer György Sebestyen dafür danken, uns dieses Alterswerk voll schonungsloser Offenheit und tröstlicher Wärme zugänglich gemacht zu haben.

IM BOOT DES CHARON, oder DIE SCHÖNEN ALTEN JAHRE, von Gyula Illyes. Aus dem Ungarischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von György Sebestyen, Edition Roetzer, Eisenstadt 1975, 288 Seiten, Preis S 275.—.

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