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Ivo Andrić / Ein Mann aus dem größeren Reich

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Der neue Nobelpreisträger kommt im März 1962 nach Wien.

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Der neue Nobelpreisträger kommt im März 1962 nach Wien.

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Die Verleihung des Nobelpreises 1961 für Literatur an den kroatischen Lyriker und Erzähler Ivo Andrić hat das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf diesen Mann aus Travnik im alten Bosnien gelenkt. Uns hier in Österreich ziemt eine längerweilende Aufmerksamkeit. Um nicht sofort mißverstanden zu werden: Töricht wäre es, diesen erfolgreichen und begabten Mann aus Travnik nunmehr als „Österreicher“ von gestern und vorgestern zu reklamieren. Nein, uns Österreichern an der Jahreswende von 1961 auf 1962 ziemt ein anderes: die Mahnung und die Ermunterung anzunehmen, die uns aus dem Schaffen, aus dem Lebenswerk dieses Mannes zukommt. In diesem Sinne begrüßen wir die Mitteilung, die in der ersten Veranstaltung zur Eröffnung der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“, die eben jetzt, kurz vor der Weihnacht, im Palais Wilczek stattfand, ihr Vorstand, Dr. Wolfgang Kraus, machte: Ivo Andrić wird im Frühjahr in Wien lesen.

Wir Österreicher von heute brauchen Menschen, die uns etwas einbringen, in der Ernte ihres schöpferischen Schaffens, von den Erfahrungen des Menschen in dem größeren Reich. Als dieses größere Reich verstehen wir, mit dem Kern, der alten Monarchie, aber über sie hinausgreifend, in weiterem Atem der Menschenbildung, jene Humani-tas austriaca, jenes Menschentum, das vom 16. zum frühen 20. Jahrhundert in der Begegnung von Morgenland und Abendland, von Süd und Nord und Ost und West in Mitteleuropa, Zentraleuropa, in Südosteuropa gelebt, erlitten, erfahren wurde.

Es ist an der Zeit, und es ist die gute Gelegenheit, leicht etwas von dem Glanz und der Würde, der Schwere, Bitterkeit und Süße dieser Lebensgemeinschaft von einst aus dem Schaffen des Nobel-Preisträgers von 1961, Ivo Andrić, zu erfahren. Die hohe Aktualität, die innere Aktualität seiner Romane und Erzählungen, für ein künftiges Zusammenleben divergierender Völker und Weltanschauungen liegt auf der Hand.

Andrić, geboren am 10. Oktober 1892, hat in Agram, Wien, Krakau und Graz studiert und die ganze ost-südöstliche Hälfte des altösterreichischen Bildungsraumes als Student erfahren. Am Beginn des ersten Weltkrieges wird er als Mitglied einer national-revolutionären Jugendorganisation verhaftet. Er wird Diplomat, dient als solcher in Rom, Madrid, Bukarest, wird kurz vor dem zweiten Weltkrieg jugoslawischer Gesandter in Berlin. Im zweiten Weltkrieg lebt er zurückgezogen als freier Schriftsteller. Nach 1945 war er einige Jahre Präsident des Schriftstellervereins Jugoslawiens. An den ersten Weltkrieg erinnert er in zwei Bänden lyrischer Prosa (Ex Ponto, 1918, Nemirt, 1920). Die Erzählungen, Novellen und Romane zwischen 1920 und heute erinnern an die Schrecknisse und Begnadungen des Menschen in unserer Zeit, Kriegszeit und Bürgerkriegszeit, im Spiegel, in der Inkarnation geschichtlicher Begebenheiten in seiner bosnischen Heimat. Der Zusammenstoß, der Zusammenprall und das Zusammenleben der Völker und Religionen, von Bosniaken, Türken, Österreichern, Franzosen, Italienern, von Katholiken, Orthodoxen, Muselmanen und Juden, in Bosniens Vergangenheit wird lebendig, voll Denkkraft und Liebe, als Exemplum humanitatis, geschildert: so lebt, leidet, liebt, stirbt der Mensch.

Die Travniker Chronik (1945, deutsch 1961) hebt die Schwere der Begegnung und des Zusammenstoßes in die Höhe der Ironie; Andric schildert da die Ankunft französischer und österreichischer Konsulatsbeamter in Travnik am Beginn des 19. Jahrhunderts. In diesem eben deutsch erschienenen Roman „Wesire und Konsuln“ projiziert Andrić seine Erfahrungen in Jugoslawien in der deutschen und italienischen Besatzungszeit im zweiten Weltkrieg auf die sieben Jahre zwischen 1806 und 1813, als seine Heimat noch unter türkischer Herrschaft, fast in den Strudel der Auseinandersetzungen zwischen Rußland, Habsburg und dem Reich Napoleons hineingezogen wurde. Sein Hauptwerk, dem er den Nobelpreis verdankt, ist 1945 erschienen: „Na Drini cuprija“, deutsch: „Die Brücke über die Drina", 1953.

Die Brücke: zwischen den Nationen, den Völkern, den Konfessionen, den Jahrhunderten. Man hat leicht und allzu gern in Österreich in den letzten Jahren über „Brückenbauer“ gelächelt, sie als unsichere Kantonisten denunziert und verdächtigt. Lassen wir uns von dem Manne aus Travnik in Bosnien heilsam beschämen, befreien und erfreuen; er hat bitterste Geschichte — Menschenleben auf unserem Balkan — durchschaut und erhöht zu einem Hohenlied der Menschlichkeit.

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