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Brücke zwischen Orient und Okzident

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Schon die 1957 erschienene Übersetzung von Ivo Andrics Erzählung „Der verdammte Hof“ war für den deutschsprachigen Leser beglückende Begegnung mit einem bezaubernden Erzähler; eine Begegnung zudem, die neue Aspekte, die Literatur hinter dem Eisernen Vorhang betreffend, aufwarf. Wie etwa gegenüber Pasternak fragt man sich auch bei diesem jugoslawischen Autor, der übrigens aktiv im diplomatischen Dienst seines Landes stand (beim Ausbruch des zweiten Weltkrieges war er Gesandter in Berlin) und später für sein schriftstellerisches Werk mehrere Literaturpreise seiner Heimat erhielt, ob wir von dieser Literatur nicht doch ein zu schematisches Bild haben? Die erwähnte Erzählung sowohl wie auch das hier vorliegende Buch Andrics stehen jedenfalls fern aller politisch-gesellschaftlichen Propaganda, sind reine Dichtungen, Bilder einer untendenziösen Welt, von einer Fülle und Strahlungskraft, der man sich staunend hingibt.

Andric wurde 1892 in Travnik in Bosnien geboren, und mit seiner Wischegrader Chronik beschert er uns ein hinreißendes Schicksalsepos seiner Heimat, jenes Grenzlandes zwischen Orient und Okzident, das, in die Geschichte beider Welten hineingerissen, ein unruhiges Leben durch die Jahrhunderte führt. Die Brücke über die Drina bei Wischegrad — Symbol der Verbindung von Morgen-und Abendland, das ein türkischer Großwesir, der selbst aus den europäischen Gebieten des osmani-schen Reiches stammte, im 16. Jahrhundert schön und mächtig erbaute — wird für Andric zum Zeichen der Beständigkeit im Wandel der Zeiten. Die Brücke erlebt die „süße Stille“ der Türkenzeit, die Eingliederung des Landes in die österreichisch-ungarische Monarchie und die beunruhigende Geschäftigkeit, die die „Schwaben“ (so nennen die Bewohner Wischegrads alle Fremden) mit sich bringen. Sie erlebt schließlich das nationale Erwachen des serbischen Volkes und ist zu allen Zeiten ein Mittelpunkt innerer und äußerer Geschehnisse, bis die Österreicher sie im Sommer des Jahres 1914 sprengen und mit ihr die alte Ordnung zerfällt.

Mit dem Schicksal der Brücke verknüpft Andric das Leben der verschiedenen Generationen, die sie überdauert. Auf den steinernen Sitzen ihrer lieblichen Kapija (dem Brückentor) führen die Männer — Türken, Serben, Juden und Österreicher — ihre besinnlichen Abendgespräche, auf ihr wechseln die Posten der jeweils herrschenden Mächte einander ab und werden so manche kleinen und großen persönlichen Schicksale entschieden.

„Man sitzt auf der Kapija wie auf einer Zauberschaukel, gleichzeitig geht man auf Erden, schwimmt auf dem Wasser, fliegt im Raum und ist dennoch fest und sicher verbunden mit der Stadt und seinem weißen Häuschen dort an dem Ufer mit seinem Gärükitiät den Pflatimubttum. chen ringsum. Mancher dieser bescheidenen Bürger, der nicht viel mehr besitzt als dieses Haus und das kleine bißchen Laden am Markt, empfindet bei Kaffee und Tabak in solchen Stunden den Reichtum der Welt und die Unermeßlichkeit der Gottesgaben. Alles das vermag durch die Jahrhunderte den Menschen ein Bauwerk zu geben, das schön und stark, zu guter Stunde erdacht, an rechter Stelle errichtet und glücklich ausgeführt wurde...“

Köstlich sind die in das allgemeine Geschehen verwobenen Mythen, Sagen, Märchen und Lieder des Volkes, die Geschichten einzelner Gestalten, voll des Zaubers, den warmes, erfülltes Leben ausstrahlt. Andric ist ein begnadeter Erzähler, dessen Kunst sein Land und sein Volk erschließt, in dem die Ströme unmittelbaren Seins noch lebendig fließen. Am schönsten aber ist die gelassene, weise Heiterkeit, mit der hier die unruhige Welt betrachtet wird, die nie versiegende demütige Hoffnung inmitten aller menschlichen Unzulänglichkeit, für die Alihodscha, ein alter Bewohner Wischegrads, im Angesicht der zerstörten Brücke und seines eigenen Todes die tröstlichen Gedanken findet:

„We>m dKC* hier alles zerstört wird, irgendwo wird gebaut. Irgendwo muß es doch friedliche Gegenden geben, in denen vernünftige Menschen um gute, gottgefällige Werke wissen. Wenn Gott seine Hand von dieser unglücklichen Stadt an der Drina abgezogen hat, so hat er sie vielleicht doch nicht von der ganzen Welt und allen Ländern unter dem Himmel abgezogen. Auch diese werden es nicht ewig treiben können. Aber wer weiß?... Wer weiß, vielleicht werden diese Unmenschen, die mit ihrem Tun alles ordnen, putzen, ändern und zurechtmachen, um es sofort danach zu verschlingen und zu zerstören, sich über die ganze Erde verbreiten, vielleicht werden sie aus der ganzen weiten Welt ein wüstes Peld für ihr sinnloses Bauen und henkerisches Vernichten machen, eine Weide für ihren unersättlichen Hunger und ihre unfaßbaren Gelüste? Alles kann sein, eines aber kann nicht sein: es kann nicht sein, daß die großen mitfühlenden Menschen ganz und für immer verschwinden, die nach Gottes Gebot dauernde Bauwerke errichten, auf daß die Erde schöner sei und der Mensch auf ihr leichter und besser lebe. Würden sie verschwinden, dann hieße dies, daß Gottes Liebe auf Erden ausgelöscht und verschwunden sei. Das aber kann nicht sein.“ Diese Worte, die ganze Chronik von dem schweren Weg seines Landes und Volkes durch die Zeiten, schrieb Andric während des zweiten Weltkrieges im besetzten Belgrad. Daß er in jenem Augenblick neuer Bedrängnis ein so ganz und gar menschliches Buch zu schreiben vermochte, ohne Haß und ohne Glorifizierung nationaler Leidenschaften, rührt ans Herz und wiegt mehr noch als die wahrlich hohen literarischen Qualitäten seines Werkes.

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