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Geschichten aus Bosnien

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Wenn in Andric' großen historischen Romanen die Vielfalt menschlicher Schicksale, die Fülle warmen, pulsierenden Lebens faszinierte, zeigt er sich in seinem dritten, nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman als Meister eines beschränkteren, aber noch schwierigeren Themas. Der politisch-historische Hintergrund — die Geschehnisse spielen in Sarajewo und Belgrad, zwischen 190$ und 1935 —, der in den beiden anderen Romanen einen so breiten Raum einnahm, ist hier mehr oder weniger Staffage für die pointierte Charakterstudie eines einzigen Menschen, eben des „Fräuleins“, der Rajka Radakovic, einer zutiefst beunruhigenden Person, deren von Geiz und Habgier bestimmtes Leben da vor uns abrollt. Zu Beginn scheint die Geschichte' einen tragischen Akzent zu haben. Der fünfzehnjährigen Rajka, Tochter eines großzügigen und rechtschaffenen Kaufmanns, der bankrott gemacht hat, wird von ihrem Vater auf dem Sterbebett ein furchtbares Vermächtnis ans Herz gelegt. Er, der mit seinen noblen Geschäftsmethoden Schiffbruch erlitten hat, schärft seinem Kind ein, daß nur krasser Egoismus und kalte Berechnung Erfolg im Leben garantieren. „Nicht der hat bei den Menschen Glück, der gut und freigiebig ist, sondern der fähig ist, weder das eine noch das andere zu sein... Vielmehr muß man in erster Linie und für immer in sich alle jene sogenannten höheren Rücksichten töten, die noblen Gewohnheiten der inneren Vornehmheit, des Großmutes und des Mitleids... Nur wer sich selbst achtet und das Seine behütet, den schonen und ehren alle...“

Diese, der Verzweiflung und Verbitterung des Alten entsprungenen Ratschläge fallen auf nur zu fruchtbaren Boden, berühren Charakteranlagen Rajkas, die sie, zunächst noch verbrämt, als Erfüllung eines Gelöbnisses, sehr bald als völlig losgelöste einzige Leidenschaft ihres Lebens kultiviert. Hart und kalt geht sie ihren Weg, jede Gelegenheit, sich zu bereichern, skrupellos nützend, mit dem Gefühl des Triumphes andere ins Verderben stürzend, aber auch sich selbst jeden Genuß, jede kleinste Freude versagend. Glück bedeutet ihr einzig und allein, „sich etwas vom Leben abzusparen“.

Es gibt da sehr makrabre Szenen: etwa, wie Rajka die Bettler, die in ihrer orientalischen Umwelt als „Menschen Gottes“, als „Gegenstand allgemeiner Sorge und Verpflichtung“ angesehen werden, nach und nach aus ihrem Vaterhaus vertreibt, wo sie einst liebevoll und großzügig versorgt wurden. Oder, wie sie ihrer Mutter jeden Bissen Brot mißgönnt und nach deren Tod ihren Kater und ihre Blumen sogleich aus dem Haus entfernt.

Es gibt auch Anrufe, das Leben zu ändern: Rajkas seltsame, sehr zärtliche Zuneigung zu ihrem „Onkelchen Vlado“, einem charmanOen, warmherzigen Leichtfuß, der, das genaue Gegenbild der Heldin, von der Leidenschaft, sich und sein Hab und Gut zu verschenken, besessen ist. Als Vladimir jung stirbt, ist nichts mehr da, was Rajkas Weg in die völlige Kontaktlosigkeit und Erstarrung aufhalten könnte. Einmal noch geht sie einem Hochstapler, der sie an Onkel Vlado erinnert, auf den Leim, doch das groteske Abenteuer endet im Leeren und stürzt das Fräulein noch tiefer in seine selbstverschuldete und gewollte Einsamkeit. Von Verwandten und Freunden gemieden, von den umwälzenden Zeitereignissen unberührt, soweit sie nicht als Fakten eigenen Gewinns oder Verlustes zählen, vegetiert Rajka dahin, als lebender Leichnam, Seite an Seite mit ihren toten Schätzen. „Eigentlich war es kein Leben, sondern ein Sparen. Eine große, herrliche, todbringende Wüste des Sparens, in der sich der Mensch wie ein Sandkorn verlor...“ Sinnlos wie ihr Leben ist auch Rajkas Tod —, in ihrem über einen Kleiderständer gehängten Mantel vermutet sie einen Dieb und erliegt, in der Angst über den Verlust ihrer Schätze, einem Herzanfall.

Mit beängstigender Konsequenz entwickelt Andric den Prozeß der Verödung durch den Geiz, das allmähliche Sterben aller menschlichen Regungen in Rajkas Seele. So schrecklich der Vorgang, so abstoßend die Heldin ist, Andric bringt es doch zuwege, neben Furcht und Schrecken auch Mitleid im Leser zu wecken, weil er selbst dem Widersinnigen und auch dem Bösen noch menschliche Züge zu verleihen vermag.

Nach den drei großen Romanen hat der Hanser-Verlag nun auch Andric' sämtliche Erzählungen dem deutschen Leser zugänglich gemacht. Soeben erschien der erste Band, dessen einundzwanzig Erzählungen alle in Bosnien spielen, während der Zeit der Türkenherrschaft vom Mittelalter bis

Hier haben wir sie wieder, jene bunte, schillernde, vielschichtige Welt des Balkans, die wir aus Andric' historischen Romanen kennen und lieben lernten. Da tauchen sie wieder auf, alle diese türkischen Wesire und Begs, die orthodoxen und katholischen Mönche, die Kaufleute, Handwerker und Bauern, die Rebellen, Renegaten und Hajduken. Jeder steht vor uns in seiner unverwechselbaren Eigenart und zugleich mit den typischen Zügen seines Standes und Wirkungskreises. In den verträumten und malerischen orientalischen Kleinstädten stoßen die Leidenschaften zweier gegensätzlicher Welten aufeinander, sind die Menschen hineingezogen in die großen geschichtlichen Auseinandersetzungen, werden Spielball und Opfer der wenigen Mächtigen, die die Zeitläufe entscheidend beeinflussen.

Einige Themen tauchen in diesen Geschichten in immer neuen Varianten auf; etwa die unheilvolle Macht der Frau über den ihr sklavisch verfallenen Mann in: „Der Weg des Alija Djerzelez“, in „Der Tod im Sinankloster“ und, am eindringlichsten, in „Anikas Zeiten“, einer der großartigsten Novellen des Bandes.

In vielen dieser Erzählungen überwiegt der tragische Grundton, gerät der Mensch

in ausweglose Verstrickungen, ist einem dämonischen Schicksal ausgeliefert. Aber es gibt auch andere hellere Töne. Da sind die köstlichen Mönchsgeschichten; ein komödiantisches Meisterwerk „Die Probe“, in der der „fröhliche Sünder“ Fra Seraphin seine Mitbrüder ebensosehr schockiert wie ergötzt. Es gibt auch herrliche Schwindelgeschichten, die Andric so hinreißend zu erzählen weiß. Alles in allem: Hier ist die Fülle des Lebens eingefangen, der Jahrmarkt der Eitelkeit, Inkonsequenz und Lächerlichkeit, aber auch das Leben in all seinem Glanz und seiner Herrlichkeit. Und immer gelingt es Andric, im Wandel der Zeiten das Bleibende und Dauerhafte, das Wesentliche und Allgemeingültige zu entdecken, im Endlichen das Ewige herauszukristallisieren. Alles steigt bei ihm aus dem tiefsten Persönlichen, breitet sich ins landschaftlich und historisch Bedingte, weitet sich zum Menschlichen.

Auch die deutsche Übertragung der beiden hier vorliegenden Bücher ist hervorragend, alle Feinheiten des Stils, die farbige, bildhafte Sprache, die besondere Atmosphäre Bosniens, des Grenzlandes zwischen zwei Welten, sind ganz und gar in ihr gegenwärtig.

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