Fenster Luft - © Foto: KULTUM

Margret Kreidl: „Einleuchtend weiß“ – Lyrik zum Atmen

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Das Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten lud Autorinnen und Autoren ein, Texte zum Thema Atem zu verfassen. Die Furche präsentiert hier Margret Kreidls Gedichtzyklus „Einleuchtend weiß“.

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Das Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten lud Autorinnen und Autoren ein, Texte zum Thema Atem zu verfassen. Die Furche präsentiert hier Margret Kreidls Gedichtzyklus „Einleuchtend weiß“.

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Es fängt an.
Ich fange an.
Einatmen. Eins, zwei, drei, vier.
Atem anhalten.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.
Ausatmen.
Eins, zwei, drei, vier.
Jetzt, hier.

Das Papier: einleuchtend weiß.
Das Wort Nacht: schwarz.
Die Nacht besteht aus Buchstaben.
Buchstabe.
Du Buchstabe.
Nacht.

Wenn ich im Dunkeln atme, ist das Musik?

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2

Aus einem Schneefeld steigt eine weiß fluoreszierende Linie
in den Nachthimmel auf zu den Kalziumlinien der Sterne und
Lichtjahre entfernt zieht ein Schweif aus Bleistiftstrichen
über ein Blatt Papier.

Feine Striche. Feine Punkte. Dicht beieinander stehende feine
Striche. Vereinzelte Striche. Streifen. Bänder und Streifen.
Striche. Die Rückseite ist weiß.

Ist Weiß eine einfache Farbe?
Ist Weiß eine schweigende Farbe?
Ist das Schweigen weiß?

3

Etwas bewegt sich.
Bewegte Luft.
Luftzug. Wind.
Duft.

Duft nach Äpfeln mit einem Einschlag von Dieselabgasen.

Es ist etwas Feineres als Luft.
Ein Hauch.
Ein Hauch, der das Licht aufnimmt.
Ein Hauch, der durchsichtige Räume schafft.
Ein Hauch, der Blüten entfaltet.

Trau den Blüten, auch wenn die Lungen wüten.

Warum summt im Kummer das M?

4

Etwas wird sichtbar.
Eine gezackte Linie am Himmel, das M,
3 das W, Lichtwechsel, T-Assoziation,
aufsteigender Ast einer Lichtkurve.

Gelb behält das Feld.
Fünf Äpfel schwarz auf weiß.
Der Schnee ist tot.
Mein Mund wird gelb und heiß.

Die schwarze Zunge.
Die blauen Lippen.
Die Fahne, ausgehaucht.
Mein Großvater ist im Wein ertrunken.

Meine Mutter hat immer mit uns gesungen.
Als Kind war ich schwach auf der Lunge.
Durch das Singen habe ich atmen gelernt.

Wer wird vom Schreien groß?

5

Etwas, das noch zu entdecken ist:
undurchsichtig
unsinnig
anziehend
vielleicht gewalttätig
etwas Verschleiertes
eine Traurigkeit
erhaben grundlos.

Die Striche, die vor dir aufleuchten.
Die Striche glühen.

Die Glut wächst.
Weißglut.
Du zitterst.

Während du auf dem Boden liegst,
kämpfst du mit einer fliehenden Frau.

Wer wirft den Vogel in die Luft?

6

eji
ejiju
ejijujü
ejijojüjujeja

Ja.
Ich denke an e und i.
Ich mische e und i mit u.
Ich sage du.
Das nennt man Bindung.
Du streckst deine Hand nicht aus.
Du hast Angst, dich zu erinnern.
Du wirst das Wort nicht aussprechen,
das sich über dich ergießt.

Wird der Fisch im Wasser ertrinken?

7

Du bleibst mit geschlossenen Augen liegen.
Du beginnst zu glühen.
Du glühst in der Glut. Du öffnest den Mund.
Du siehst den Gesang
auflodern und verlöschen.

Eine schimmernde Linie, die sich dem Erfasstwerden entzieht.
Die Linie wird immer dünner.

Ein schwaches Flirren.
Eine leicht glänzende Grafitlinie.

Wird der Vogel in der Luft versinken?

8

Es piepst.
Ein pulsierendes Piepsen.
Ein hoher Pfeifton.
Die Sensoren werden kalibriert.
Der Schlauch wird durch die Stimmritze gestoßen,
durch die Luftröhre hinunter zur Lunge.

Die gelbe Kurve auf dem Monitor beginnt zu zittern.

Schläuche, Katheter, Sonden, Sensoren, Kanülen.
Die Innenkanüle der Trachealkanüle heißt Seele.

Wird der Atem den Weg in den Körper zurückfinden?

9

Der Mund ist geschlossen,
die Augen sind geschlossen,
der Kopf wird zerbrochen,
das große Gips-Ding,
überlebensgroß,
ein Block,
von der Seite aufgebrochen,
eine Form, die sich ständig verändert,
Kopf einer Frau,
Kopf eines Mannes,
aufgehoben,
aufgelöst.

Jetzt.
Ja.
Da.
Das.

Ist das alles?

10

Es ist immer das alte Lied.

Schaf kommt zu Schaf.
Eins und eins ist elf oder acht.
Das Bett wird kalt.
Das Leintuch wächst nicht nach.
Die Nacht wird schwarz.
Jetzt träumen wir.

Wir schonen uns nicht.

Nicht zwei und nicht eins.

Null.
Eins.

Singt der tote Schnabel noch?

11

Ein rhythmisches Wetzen
ein kehlig kratzendes Schwätzen
ein heiseres Scheppern
ein kreischendes Schwirren
ein kurzes scharfes Klirren
ein trillerndes Gelächter
ein weich abfallendes Lachen
ein leises Kichern
ein tiefes seufzendes Stöhnen
ein klagendes Flöten
ein ansteigendes heulendes Jauchzen
ein raues Schluchzen

Das Herz öffnet sich in die Zunge,
sagt Liu Wan-su.

Warum verschwendest du deine Zeit
auf ein schwarzes Kissen?

12

Ein Blau
Ein Grün
Ein Gras
Ich leg mich hin
Und bin ein weißes Blatt.

Die Buchstaben haben eine Gestalt.

Die Gestalt.
Das Geräusch.
Es zirpt.
Es blüht.

Das aufblühende Gedicht,
das sich in aufeinanderfolgenden Fassungen
immer wieder aufs Neue entfaltet.

Notieren, zitieren: Zitat – Zikade,
ein Zirpen, ein leichtes Zurückzittern.

Hörst du es?

13
Ich höre mich atmen. Mein angespanntes Atmen,
das rechte Knie gegen die Tischplatte gepresst,
der Oberkörper vorgebeugt, der Kopf verdreht.

Ich höre mich singen. Oder ist es ein Summen?

Es ist eine Membran.

Durch die zarte Wand, die achtzigmal dünner ist
als ein Blatt Papier, tritt der Sauerstoff über
ins vorbeirauschende Blut.

Ja, es ist ein Summen. Aber wo beginnt es
und wo endet es, wo vermischt es sich
mit dem aufsteigenden Singen?

14

Im offenen Schnabel hängt ein langer Pfiff:
die aufsteigende Melodie.

Es ist ein Vogel. Aber es könnte auch
ein Mädchen mit Vogelbeinen sein, das
gegen die Brust der Männer fliegt
und sie durchbohrt.

Es ist atemberaubend.

Eine Zartheit, die mit Heftigkeit gepaart ist.

Der Gedanke formt sich in der Brust,
mit dem Atem, der zum Mund fließt.

Immergrün ist die Farbe der süßen Erinnerung.

Warum weinst du?

15

Ich muss weinen. Immer wenn ich an
meine Mutter denke, muss ich weinen.

Weinen ist ein Atemreflex. Durch kurze
Atemstöße wird das Zwerchfell erschüttert.

Zwerchfell und Seele sind ein und dasselbe.

Das Eingemachte
Das Enthaltene
Das Umschlossene
Das Verpackte

Nicht lachen, nicht lachen, sagt meine Mutter.
Fleisch aus Luft, das ist die Zukunft.

Ich bin wach. Warum darf ich nicht lachen?

16

Ach ach ach.
Es ist eine Arbeit des Rachens.
Es ist eine Arbeit der Kehle.
Es geht über die Stimme hinaus.

Rauschen
Reiben
Schreiben
Abstand halten
Den Kern gestalten
Wachsein

Es ist kostbar, weil es umsonst ist.

Ein Geräusch, das sich selbst herstellt.

Warum kannst du es nicht sein lassen?

17

Es winkt mir
es zerstreut sich
es ist ein fremdes
es ist ein es lauert
es ist eine blaue
es besteht aus
es steigt, wenn es singt
es ist eine es ist die es ist ins Blaue gespannt
es singt nicht
es ist keine
es ist eine
es ist

Es schließt mir die Augen, damit ich nach innen schaue.

Was siehst du?

18

Ich sehe dein Gesicht in den Wolken.
Ein heller Moment.
Die Wolken reißen ein Loch in dein Gesicht.
Wolkenlicht, Lichtbüschel, Büschelentladung.

Dein Gesicht ist wolkig aufgewühlt,
durchlichtet.

Gelb,
heiß,
dicht.
Gelber Tropfen Sonne.
Ich lösche die Farbe
mit Licht.
Weiß ist alles.

Gibt es für jedes Glühen ein Abkühlen?

19

Die Lücke ist lang und leer.
Das Blaue ist oben,
es wächst nicht mehr.
Ein Baum steht, der Wind geht.
Die Straße ist fort.
Das Licht brennt.
Das Haus ist da und dort.
Haken wiederholen sich,
es bleibt etwas hängen.

Ein Klang.
Ein Bild.
Das Bild zittert.

Ich atme.
Ich halte mich mit Papier über Wasser.

Siehst du nicht, was dir fehlt?

20

Gespinst, von Gespenstern zurückgelassen,
ein Gewebe, das das Flüstern aufnimmt,
das Rauschen der Bäume im Haus.

Die Blumen haben geheime Namen.
Sie zeichnen sich in der Luft ab:
Silbe für Silbe.
Du setzt die Namen zusammen,
damit der Honig zu tropfen beginnt.

Rot wird weiß. Weiß ist weiß.

Hier liegt das Fleisch in Dunkelheit.
Wer treibt es ins Licht?

21

Die Buchstaben verbinden sich.
Es ist ein Hauch.
Es ist der Name.
Es ist eine einzige Hauchung.
Sing, bis du den süßen Namen hörst.
Ich atme den Namen aus.

Einatmen.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.
Atem anhalten.

Eins.
Ausatmen.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

Das ist der Mutteratem, sagen die Sufis.
Wir sind wieder am Anfang. Oder nicht?

CODA

Etwas, das sich nicht wiederholen lässt.
Es ist noch da.
Es ist schon verschwunden.
Vielleicht, nein.
Ja.
Nichts geht verloren.
Blablabla.
Wir sind miteinander verbunden.
Das Publikum hustet.
Und was machst du?
Ich atme.
Ist das alles?
Ich atme mit den Füßen.

Veranstaltung

Neu, ATEM, neu:

Margret Kreidl liest ihren Text am 12. November im Grazer Minoritensaal.

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