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Belebung des keimenden Wortes

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GESAMMELTE WERKE. Von Paul Claudel. Band I, Lyrik. Mit einem Nachwort von Hans Urs von Balthasar. Benziger-Verlag, Einsiedeln. 601 Seiten. Preis 163.20 S.

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GESAMMELTE WERKE. Von Paul Claudel. Band I, Lyrik. Mit einem Nachwort von Hans Urs von Balthasar. Benziger-Verlag, Einsiedeln. 601 Seiten. Preis 163.20 S.

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Es ist freilich noch zu früh, die Entstehung und die einzelnen Phasen von Claudels Einfluß und deren Resonanz im deutschsprachigen Raum seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ausführlich zu analysieren und kritisch zu bewerten. Von den allerersten Übersetzungen von Franz Blei (Mittagswende, in Hyperion, München, 1908), von Jakob Hegner (Mariae Verkündigung, Hellerau, 1912) oder noch von Bernhard von der Marwitz (Gedichte aus „Corona benignitatis anni Dei 1914“) bis zu der jetzigen Ausgabe der gesammelten Werke durch E. M. Landau im Benziger- Verlag ist ein langer Weg, nicht ohne Hindernisse, zurückgelegt worden.

Die nun erreichte Vollendung der vor fünf Jahren unternommenen Gesamtausgabe kann das außerordentliche Echo der claudelschen Aussage in der deutschen Seele nur verstärken: sie kann unter ande- yppj das .katholische Weltbild, das die Kritik seit -jeher, vorn: claudelschen .Schaffen ablas, bedeutend nuancieren helfen und es dem deutschen Leser ermöglichen, in Claudel nicht nur den einseitigen Dichter der christlichen Freude, den optimistischen Herold des Sieges, sondern darüber hinaus einen echten Zeugen der pascalschen, jeder religiösen Seele innewohnende Unruhe zu begrüßen. In dieser Perspektive bildet die vorliegende Ausgabe einen Markstein, der keinen Endpunkt, sondern im Gegenteil, den Ausgangspunkt zu einer erweiterten und objektiven Claudel-Forschung und -Erkenntnis darstellen kann.

Claudels Lyrik — und der eben erschienene erste Band veröffentlicht zum ersten Male manche „problematischen“ Gedichte aus allen Perioden des claudelschen Schaffens (Seite 9 sq. 237/8, 267/71, 474, 478, 510 . ..) — gibt einen eindeutigen Beweis für diese menschliche und christliche Ambivalenz. Lyrik soll hier übrigens im formalen Sinn des Wortes verstanden werden: Claudels lyrische Inspiration sprengt nämlich jede literarische Gattung und durchdringt ebenso die Theaterstücke der

Jugend und der Reifezeit wie manche Stellen aus „Erkenntnis des Ostens“ und sogar zahlreiche Seiten der späteren, umfangreichen Bibelkommentare.

An Hand der ausgezeichneten Übersetzung Balthasars, die manchmal einer echten Nachdichtung gleichkommt, sowie dessen prägnantem und aufschlußreichem Nachwort, das eine regelrechte Einführung in Claudels Gedankenwelt und poetische Technik darstellt, kann der Leser den geistigen und religiösen Werdegang Claudels in seinem fortschreitenden formalen Niederschlag genau verfolgen. Wird der Übergang von der Ode zur Hymne im claudelschen dichterischen Schaffen am klarsten dargelegt, so bleibt im Gegenteil in Balthasars Nachwort die Frage nach der Entstehung des ursprünglichen claudelschen Versmaßes, das der Prosodie und der Rhythmik der liturgischen Sequenzen sehr viel verdankt, absichtlich unberührt (Seite 580). Dem Übersetzer ging es darum, etwas Wesentlicheres zu vollbringen und seinen Lesern zugänglich zu machen: den geistigen Impuls von Claudels dichterischem Genie empfinden und genießen zu lassen. Dieser Vorsatz ist ihm restlos gelungen: sei es, daß er Gedichte übersetzt, die bis jetzt in deutscher Sprache unveröffentlicht waren (Prozessionslied, 1910; Aufopferung der Zeit, 1919; Vermischte Gedichte, 1925/50, und manche Dichtungen aus „Heiligenblätter“, 1910/21), sei es auch, daß er seine früheren Übersetzungen neu bearbeitet (man vergleiche zum Beispiel den Anfang der I. Großen Ode Die Musen in der jetzigen endgültigen Fassung mit der ersten, 1939 bei Herder erschienenen Übersetzung): der Leser hört eben das, was Claudel selbst in seinem schöpferischen Schwung erlebte und aussprach: „Heimlicher Selbstlaut! Belebung des keimenden Wortes, dem die ganze Seele sich einschwang!“ (S. 25).

Dem Übersetzer sowie dem Herausgeber E. M. Landau und dem Benziger-Verlag, die das ebenso notwendige wie gewagte Unternehmen vollbracht haben, dem deutschsprachigen Publikum Claudels Gesamtschaffen geschlossen zu präsentieren, sei hier der Dank aller „Claudelianer“ ausgesprochen.

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