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„Die Großen Deutschen“: V. Band

19451960198020002020

Deutsche Biographie. Herausgegeben von Hermann Heimpel, Theodor Heuss, Benno Reifenberg. Propyläen-Verlag, Berlin. Fünfter Band. 607 Seiten

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Deutsche Biographie. Herausgegeben von Hermann Heimpel, Theodor Heuss, Benno Reifenberg. Propyläen-Verlag, Berlin. Fünfter Band. 607 Seiten

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Den vier ursprünglich geplanten Bänden dieses großartigen Werkes haben die Herausgeber einen fünften, ergänzenden folgen lassen. Er beseitigt schmerzlich empfundene Lücken — etwa Bonifatius, Zwingli, Karl V., Angelus Silesius, Klopstock, Fichte, Schleiermacher, die Ebner-Eschenbach, Wilhelm Busch — und er fügt Gestalten der jüngsten Vergangenheit, darunter Barlach und als letzten Bert Brecht, hinzu, über deren Anrecht auf einen Platz in der gedruckten Ehrengalerie des deutschen Sprachraums kein Zweifel besteht. Die meisten andern mit einer Biographie Bedachten sind in einer so sorglichen Auswahl der Großen vertretbar, wenn sie auch ebensowohl durch andere Geisteshelden hätten vertreten werden können. Ueber einige der mit dem höchsten Rang Ausgezeichneten wären vielleicht Erörterungen gestattet, ob ihnen wirklich, sowohl bei allen urteilsfähigen Deutsch redenden als auch — und dieser Gesichtspunkt ist bei einer repräsentativen Ruhmeshalle sehr zu beachten — jenseits der deutschen Sprachgrenzen, allseitige Gültigkeit und währende Glorie zukommt. Zum Beispiel in bezug auf den Pädagogen Fröbel, den Nationalökonomen Thünen, die Maler Karl Blecher und Ernst Ludwig Kirchner. Derlei Diskussion scheint um so mehr angebracht, als nach wie vor, um nur zwei Sektoren au betrachten, Oesterreicher und Schweizer, denen grundsätzlich Aufnahme in das Sammelwerk des Propyläen-Verlages zugedacht ist und von denen auch eine Anzahl in ihm erscheinen, stiefmütterlich behandelt werden. Sind wirklich aus dem politischen Bereich die Kaiser Maximilian I„ Joseph II., Franz Joseph I., sind Radetzky, Felix Schwarzenberg, Lueger, Victor Adler und Ignaz Seipel gleichermaßen zu ignorieren wie in der Wissenschaft die Mediziner Hyrtl, Billroth, Eiseisberg, die Volkswirtschaftler Böhm-Bawerk, Phiiippovich, Schumpeter, die Historiker Arneth und Pastor, die Juristen Unger und Ludwig Mitteis. die Philosophen Bolzano und Ludwig Wittgenstein? Sind in der Literatur Nestroy und Karl Kraus, ist Klemens Maria Hofbnuer wie vordem Peter Canisius keines Denkmals würdig? Lind aus

der Schweiz Karl Ludwig v. Haller, Johannes Müller, Böcklin, Hodler, Spitteier? Der deutsche Bundespräsident Heuss, der den „Großen Deutschen“ nicht nur seinen Namen und seinen Beirat geliehen hat, sondern auch tätige und überragende Mitwirkung, hat in seiner Rede auf Hofmannsthal und in vielen Aeußerungen über die Schweiz aufs klarste bezeugt, daß er die Rolle der sprachverwandten Länder im gesamtdeutschen Geistesleben geziemend schätzt. Wir dürfen an ihn den dringenden Appell richten, er möge für die Veröffentlichung eines sechsten Bandes dieser Biographie eintreten, auf daß die noch klaffenden Lücken gefüllt werden und Oesterreicher wie Schweizer zu ihrem Recht kommen.

*

Die Abwesenheit so mancher Oesterreicher und Schweizer, denen wir im fünften Band zu begegnen gehofft hatten, stellt den einzigen nennenswerten Mangel dar, den wir an ihm zu beklagen haben. Sonst ist die Gesamtleistung wiederum so stupend, so erfreulich wie bei den vorangegangenen vier Bänden. An die Spitze stellen wir folgende Beiträge: den wie stets blendenden, an originellen Gedanken reichen, von Witz und Anmut funkelnden Theodor Heuss' über Wilhelm Busch, den in seiner abgewogenen Rundung vollkommenen von Alfred Heuss über Niebuhr, Ernst Beutlers schönen, einfühlsamen „Klopstock“, Josef Eberles ebenso wohlgelungenen, in der Darstellungsart an Heuss gemahnenden „Unland“, Joseph Lortz' mächtigen „Bonifatius“, Rudolf Alexander Schröders „Rückert“ (dem wir nur' ein wenig von Heuss-Eberleschem attischem Salz beigemengt wünschten), Franz Wieackers „Jhering“, Walter Bußmanns „Treitschke“ — beide Gelehrtenbiographien den recht „schwierigen“ Helden mit unbefangener Sympathie Gerechtigkeit zollend —, Franz Josef Brechts ein wenig den Ton der Bewunderung überspannenden „Husserl“, welcher Päan aber die heikle Aufgabe, einen Denker und dessen Leistung gemeinverständlich darzustellen, so vorbildlich löst, daß man gerne ein paar bestreitbare Urteile, etwa über Franz Brentanos Rang, mit in

Kauf nimmt; endlich die hervorragende Studie Erich Welters über Walter Eucken, den Nationalökonomen und ebenbürtigen Sohn des großen Philosophen Rudolf Eucken. Noch sehr zu rühmen: Wolfram von den Steinens „Notker, der Dichter“ und der Benediktinerin Adelgundis Führkötter fraulich-anziehende und dennoch wissenschaftlich vollgültige „Hildegard von Bingen“; Gerhard Ritters gar vortrefflicher „Zwingli“, an dem wir die zu scharfe Betonung eines höchst fraglichen Deutschtums dieses Urschweizers zu bezweifeln wagen; Peter Rassows „Karl V.“, welches Porträt man, mit Gewinn, neben der klassischen Schilderung Brandis und der knapperen, doch nicht minder anregenderen Tylers betrachten möge; Heinz Heimsoeths „Fichte“; Paul Ortwin Raves „Schadow“; Hermann Heimpels „Dahlmann“ — bei welchem ausgezeichneten Lebensumriß sich der eine Einwand meldet, ob man es da wirklich mit einem Großen Deutschen zu tun hat —; Carlo Schmids ungemein lebendiger und kongenialer „Lorenz von Stein“; Heinrich Heffters „Johannes Miqüel“ — wiederum den Zweifel an der Größe dieses gewiß grundgescheiten Politikers und Wirtschaftsmannes hinterlassend —; Benno Reifenbergs „Wölfflin“ und Wilhelm Emanuel Süßkinds taktvoller „Bert Brecht“. *

Das einem Gesamtwerk wie diesem selbstverständliche gute Niveau ist gewahrt bei den Lebensbeschreibungen Hartmanns von Auen. Gottfried von Straß-burgs, Bernt Notkes, Adam Elsheimers — eine der besten Arbeiten des verstorbenen brillanten Kunstkritikers Wilhelm Hausenstein —, Heinrich Schütz', Pufendorfs, Justus Mosers, Schleiermachers, Franz Bopps, Karl Ernst v. Baers, Moritz Schwinds, der Ebner-Eschenbach, Daimlers, Benz', Ferdinand von Richthofens, Georg Friedrich Knapps, Franz von Liszts, Wilamowitz-Moellendorffs, Junkers', Barlachs, der Maler Lehmbruck und Kirchner (die Biographen überzeugen mehr als die von ihnen verherrlichten Künstler) und Max Reinhardts.

Vorbehalte wecken: „Veit Stoß“ — unent-

schuldbare Verballhornungen berühmtester polnischer Namen, so Clesnicki statt OleSnicki, Peter von Bnüi statt von Bnix, Wloclawecfe statt Wlodawefe, Kloster Jedrzejowie statt Jedrzejow, woraus dem Kundigen sofort klar wird, daß der Verfasser des Beitrags kein Wort Polnisch versteht und darum die gesamte, zum Teil unentbehrliche polnische Literatur über den Nürnberger Künstler nicht benutzen konnte, also zur Abfassung der Studie über Veit Stoß nicht berufen war. „Angelus Silesius“: der Autor bleibt uns die Zeichnung der mystischen Umwelt schuldig, in die Johannes Scheffler hineingeboren war und die durch Sozinianer, Arianer entscheidend geprägt wurde. „Spener“: die Universalität dieses ungewöhnlichen Menschen tritt nicht genügend hervor; so erfahren wir kein Sterbenswörtchen über seine Bedeutung für die Geschichtsforschung und als „Großer Ahne“ der wissenschaftlichen Genealogie. „Döllin-ger“: vergebens fragt sich der Leser, worum es eigentlich bei dessen theologischen Unstimmigkeiten mit der Römischen Kurie ging; wie sich das schwankende Verhältnis des seelisch nie von der Mutterkirche Gelösten im Laufe der Jahre gestaltet hat. *

Der Kritiker hält ein. Er möchte nicht den irrigen Eindruck heraufbeschwören, als zolle er dem Ergänzungsband geringere Anerkennung denn den früheren Bänden. Nichts Aergeres kann einem Monumentalwerk widerfahren, als Rezensionen in der Form von Variationen über einen — vorhandenen oder imaginären — Waschzettel. Gerade die Auseinandersetzung mit den wenigen Schwächen bezeige den Ernst einer auf sorgsamstem Prüfen beruhenden Bewunderung, die wir nochmals und abschließend vor den „Großen Deutschen“ bekennen; eine Bewunderung, die weit hinaus über den deutschen Sprachraum den Großen Deutschen zu werben und damit dem deutschen Volke Freunde zu gewinnen, nicht das kleinste Verdienst des nun zum vorläufigen Abschluß gediehenen biographischen Standardwerks ist.

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