Von der Sehnsucht der Städter nach dem Lande

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Das Landleben Stadtflüchtiger ist die Kopie eines Originals, das es als solches nie gegeben hat. Im ländlichen Rollenspiel verwirklicht sich städtische Künstlichkeit.

Paradiese sind Sehnsuchtsträume. So sind sie auch frei von dem, worunter Stadtbewohner leiden: Enge, Hetze, Anonymität, Konkurrenz, Künstlichkeit. Der Städter richtet daher den "Pastoral-Blick" (Ernst Bloch) auf Wald, Gebirge, Meer und sucht nach dem vermissten Einklang von Mensch und Mensch, Mensch und Natur. Die Sehnsucht des Städters nach dem Lande spricht gleich der Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit jene mächtige, nie versiegende Gefühlsströmung an, die Mythen und Utopien nährt. Vor Jahrtausenden hat Hesiod das "goldene Zeitalter" geschildert und Laotse das "kleine Land mit geringer Volkszahl", wo die Menschen sich mit der "namenlosen Schlichtheit von ehemals" zufrieden geben und das Hundegebell und Hähnekrähen aus dem Nachbarland hören können, ohne je dort gewesen zu sein.

Schlichtheit von ehemals

Mit der zivilisatorischen Bereicherung und Verfeinerung wachsen die zivilisatorischen Zwänge. Doch der Reichtum erlaubt es seinen Besitzern auch, sich diesen Zwängen gelegentlich zu entziehen. Dem nach dem Landleben sich sehnenden Städter gewährt die von der Stadt über das Land ausgeübte Herrschaft Sicherheit und Status. Doch was hilfts? "Der Ort ist gut, die Lage neu, der alte Lump ist auch dabei" (Wilhelm Busch).

Die Stadtflüchtigen kehren nicht zurück zur "namenlosen Schlichtheit von ehemals". Sie bringen vielmehr ihre Standards von Selbstbestimmtheit, Geschmack und Komfort mit aufs Land. Dort orientieren sie sich keineswegs an Häuslern und Handwerkern oder am Gesinde, vielmehr am besitzenden Bauerntum, womöglich am Adel. Die Urbeschäftigungen Jagd, Sammeln, Fischfang, Tierhaltung und Anbau dienen ihnen nicht zum Lebensunterhalt, sondern zur Erholung. Um noch einmal Busch das Wort zu geben: "Der eine fährt Mist, der andre spazieren; das kann ja zu nichts Gutem führen." Das Landleben Stadtflüchtiger ist die Kopie eines Originals, das es als solches nie gegeben hat. Im ländlichen Rollenspiel verwirklicht sich städtische Künstlichkeit.

Sommerfrische

Mit der Industrialisierung haben die Städte Wall und Graben aufgegeben und sich in die Landschaft ausgebreitet. Den Landbewohnern bot die Industrialisierung die Gelegenheit, sich von der Scholle zu lösen. Damit ballten sich in den Städten die bislang verstreuten sozialen Probleme: Elend und Wurzellosigkeit, drangvolle Enge, Schmutz, Krankheit, Verbrechen. Die Städte wurden gesichtslos und unheimlich, während das sich leerende Land an Anziehungskraft gewann. So intensivierte die Landflucht mit Notwendigkeit auch die Stadtflucht. Hilfreich war hier das mit der Industrialisierung verbesserte Transportwesen. Man konnte den Einklang mit Mensch und Natur nunmehr in der Vorstadtidyllik zu leben trachten oder in das Landleben schlüpfen wie aus dem Straßenanzug in den Bauernjanker.

Jagdhaus, Villa, Sommerfrische, Schrebergarten - sie alle dienten als Bühne ländlichen Rollenspiels. Insbesondere die Sommerfrische kennzeichnet das bürgerliche Zeitalter: "In der schönen Jahreszeit", schreibt Hanns Haas, "übersiedelte die Familie mit Köchin, Gouvernante und Englischlehrerin, mit Matratzen, Bettwäsche und Geschirr für ein paar Monate aufs Land'. Frau und Kinder genossen den ländlichen Sommer von Pfingsten bis September, wobei die Kinder sogar ein paar Landschulwochen frequentierten. Der Vater kam am Wochenende." Von den Einheimischen erwartete man gegen mäßige Bezahlung die nötigen Dienstleistungen, Freundlichkeit und Komfort, die wohl weniger aus volkhafter Biederkeit als aus Geschäftssinn gewährt wurden. Der Fremdenverkehr brachte in der Stadt verdientes Geld aufs Land, hemmte die Landflucht und trieb eine Modernisierung voran, die zumindest die Fremdenverkehrsgebiete vor industrieller Hässlichkeit bewahrte - hier Grundlsee, dort Donawitz. Eine vergleichbare Wirkung hatte der Fremdenverkehr auf die Volkskultur, die nun von der Trachtenmode bis zur "Heimatschutzarchitektur" synthetische Blüten trieb.

"Judenreine" Heimat

Wer sich darüber mokiert, vergisst, dass Stadtkinder hierdurch Heimat fanden, selbst wenn sie von den Einheimischen nicht völlig akzeptiert wurden. In Friedrich Torbergs "Tante Jolesch" steht der Abgesang auf die bürgerliche Sommerfrische und speziell auf das jüdische Salzkammergut. Unterdessen verbreitete sich der Fremdenverkehr ins Kleinbürgertum und - über Ferienheime - auch ins Proletariat, wodurch Stadt und Land einander immer ähnlicher wurden, zum Nutzen, wenn auch nicht stets zur Freude, der Landbewohner. So legte der "Sommerfrischen-Antisemitismus" in der Ersten Republik den Heimatschutzgedanken in dem Sinne aus, die Heimat "judenrein" zu halten. Heute machen aber auch schon die Landbewohner Urlaub vom Land, und die Suche nach Sehnsuchtsträumen führt immer weiter ins Exotische und Ausgefallene.

Ist diese Suche verächtlich? Ist sie rundweg abzulehnen? Der romantische Kultus des Authentischen will sich mit Rollenspiel und Synthetischem nicht zufrieden geben. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", hat Theodor W. Adorno dekretiert. Das soll wohl heißen, dass erst das Leben der Menschheit generalsaniert werden muss, bevor Sie, liebe Leserin, Sie, lieber Leser und ich ein richtiges Leben führen dürfen. Das läuft auf den Utopismus eines Laotse hinaus, der das Volk notfalls auch mit verdeckten Machtmitteln schlicht halten wollte. Ernst Bloch hat die erhoffte Generalsanierung der kapitalistischen Industriegesellschaft mit glühenden Farben ausgemalt: "Eine Gesellschaft, die als solche jenseits der Arbeit stehen wird, wird [...] das Steckenpferd als Beruf, das Volksfest als die schönste Erscheinung ihrer Gemeinsamkeit haben. [Sie wird] in einer glücklichen Ehe mit dem Geist ihren festlichen Alltag erfahren [und] eine nicht mehr abstrakte Wirtschaftsweise wird auch in Sachen der Naturerfahrung [die] Aufhebung der Unterschiede von Stadt und Land bringen. [...] Menschliche Freiheit und Natur als ihre konkrete Umgebung - Heimat - bedingen sich wechselseitig." So wird also die klassenlose Gesellschaft am Ende der Geschichte ohne Unterschied alle in die Heimat einschließen, auch den frustrierten Städter, auch den entfremdeten Intellektuellen.

"Romantischer Bauernhof"

Dem spätmarxistischen Pathos folge nun noch eine neoliberale Clownsstimme: "Sonntags zusätzlich zu einem Naturfrühstück einen selbstgebackenen Kuchen und mindestens zehn Tiere am Hof: Das sind zwei von acht Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, wenn ein Bauernhof, der Urlaub am Bauernhof' anbietet, die neue Bestnote Romantischer Bauernhof' bekommen soll. Zudem muss es eine Spielwiese geben, einen Obstgarten, Kinderbetreuung, der Hof hat abseits von stark befahrenen Durchzugsstraßen zu liegen. [...] Kategorisierungen solcher Art, behauptet Landesrat (folgt Name und Partei), seien den Bauern genauso recht wie den Gästen: Gäste und Bauern kommen leichter zusammen, das belebt das Geschäft. [...] Nächste Offensive sind Schulungen für die Bauern.'" (aus den Salzburger Nachrichten).

Einsickern des Neuheidnischen

Die an das Landleben gerichteten Erlösungserwartungen sind ungebrochen wie eh und je. Doch dass ländliche Frömmigkeit, volkhafte Biederkeit oder auch die klassenlose Gesellschaft den Einklang von Mensch und Natur stiften könnten, glaubt heute wohl keiner mehr. In den so entstandenen Leerraum sickert allerhand Esoterisches und Neuheidnisches ein: Wellness und Meditation, Feng Shui und Qi Gong, Kraftpunkte und Kraftlinien, Andacht vor Hünengräbern, Nacktbaden im Mondschein, keltische Urstoffe, verborgene Heilkräfte, Hexenkulte, Tieropfer - vielleicht auch wieder Menschenopfer? Nur gut, dass die magischen Landschaften über die vom Herrn Landesrat wohl nicht nach Gebühr geschätzten Durchzugsstraßen an die Städte angebunden sind und dass das Internet funktioniert. Für den Notfall, zur Sicherheit und zur Vertreibung der Langeweile bleiben in den Städten Krankenhäuser, Gerichte, eine geregelte Verwaltung, Polizei, Schulen, Vergnügungsstätten und viele bunte Medien verfügbar, sodass sich die "namenlose Schlichtheit" von heute nicht nur mit Hundegebell und Hähnekrähen begnügen muss.

Der Autor ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Salzburg.

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