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Aufgabe, die auf Erfüllung Wartet

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Mit der feierlichen Verleihung des Ehrendoktorats an Pfarrer Emanuel Reichenberger, den „Vater der Heimatvertriebenen“, hat ln diesen Tagen die Grazer Universität eine Dankesschuld abgestattet, die von seiten Österreichs schon lange fällig war; denn es waren Deutsche des alten Österreich, noch vor wenigen Jahrzehnten unsere Staats- . genossen, denen unter einem persönlichen Opferleben dieser edle große Helfer in einem Liebeswerk ohnegleichen beigestanden ist. Reichenberger! Immer wird dieser Name genannt werden, wo von deutscher Not in schwerer Katastrophenzeit und von der Großtat eines einzelnen Mannes die Rede ist. So ist der Festakt in der Grazer Universitätsaula auch die Vorstellung eines Beispiel , das nicht nur geehrt, sondern auch nachgeahmt sein will. In unserem, eigenen Land, an den vielen zehevtausenden Heimatvertriebenen, die in unseren Grenzen Zuflucht gefunden haben. Nur mit Beschämung muß vor dem Beispiel Reichenbergers das Bekenntnis abgelegt werden, daß die Hilfeleistung für diese Menschen in unserem, wenn auch arm gewordenen Lande hinter dem Möglichen, hinter dem von christlicher Liebe und sozialer Fürsorge Gebotenen zurückgeblieben ist .

Man mag sagen, die tiefe Tragik dieses Schicksals liege nicht zuletzt in dem Wandel der Generationen begründet, seit 1918 seien hüben und drüben Menschen herangewachsen, denen die alte österreichische Gemeinsamkeit nur mehr oder — besser gesagt — kaum mehr vom Hörensagen nahegebracht worden ist. Das 1st richtig erklärt und begründet, aber nicht alles. Denn es sind doch viel tiefer reichende Beziehungen, die hier mitzusprechen haben; jene Jahrhunderte währende Gemeinsamkeit, war nach Kron- landsgrenzen gegliedert, aber nicht getrennt. Sie hatte sogar ihren Brenn- und Kristallisationspunkt in Wien. Hieher zog es oder hieher wurden gerufen so manche der Besten aus den Ländern des Gesamtstaates. In ihrem Leben wirkte als Geleitwort jener Ausspruch des Justizministers Eduard Herbst, der heute über seinem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof steht: „Wir Deutschen Österreichs gravitieren doch alle nach Wien.“ Den Satz verdeutlichen Namen, deren Glanz in der österreichischen Kulturgeschichte nie verblassen kann; sie zeugen, welche kostbaren Bindungen sich zwischen dem Volk der Heimatvertriebenen von heute und dem österreichischen vollzogen haben. Die Wiener medizinische Schule, einst das Mekka der Ärzte der ganzen Welt, wurde mitbegründet von.Skoda, Hebra, Albert und Rokitansky. Die Weltliteratur zählt Stifter, Rilke, Schaukal, Kralik, Kafka und Werfel in ihren Reihen. Der Brunner Adolf Loos war einer der Wegweiser der modernen Baukunst von Wien, wie Wollek und Anton Hanak in der Bildhauerei, Führich in der Malerei und Alfred Kubin in der Graphik. Da ist der große Lehrmeister der Bühnenbildner Alfred Roller, auf dem Gebiet des musikalischen Schaffens Mahler und Schmidt, auf dem des Theaters der Ungarn-Schwabe Müller-Gutten- brunn, den Ruhm der Wiener Oper tragen Namen wie Slezak und Jeritza, die Geschichte des österreichischen Schulwesen verzeichnet Leo Thun und Leopold Hasner als Mitgestalter. Der Nobelpreisträger Hans Molisch lehrte an der Wiener Universität Botanik, Franz Schindler auf Wiener akademischem Boden und auf den historisch gewordenen .Entenabenden“ Soziologie in der Frühzeit christlicher Sozialreformbewegung. Nur Gewalt konnte den staatsrechtlichen Akt vernichten, der gesetzt wurde, als sich 1918 nach dem Zusammenbruch den: Monarchie alle sudetendeutschen Abgen ordneten des österreichischen Reichsrates aur Republik Deutsch - Österreich betkennend, deren erste Verfassung mitschufen.

Das neue deutsche Vertriebenengesetz erklärt es für Bund und Länder als Aufgabe, „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete im Bewußtsein der Vertriebenen und des gesamten deutschen Volkes zu erhalten, Archive und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten und die Aufgaben, die sich für die Wissenschaft und Forschung aus der Austreibung ergeben, zu erfüllen“. Für Österreich besteht keine derartige gesetzliche Bestimmung, aber gültiger als die Buchstaben eines Gesetzes ist doch wohl die sittliche Verpflichtung. Wir haben nach Kräften dasselbe zu tun. In einem Appell aus heißem Herzen schrieb Wilhelm Formann in der „Heimat mit Recht, es handle sich um eine eminent psychologische, um eine historische und soziologische Angelegenheit, die einmünde in die Mission des heutigen Österreich. Der Österreicher, aus Tradition zum Weltbürger berufen, soll nicht verlernen, in größeren Räumen zu denken, in Räumen, die er ja einst politisch, wirtschaftlich und kulturell mitgestalten half. Hier wartet ein echter, großer Auftrag für die österreichischen Kulturverbände. Es tut not, die Heimatvertriebenen endlich aus ihrer Mentalität der deklassierten, der in Lagern Lebenmüssenden herauszuführen durch die praktische hilfreiche Tat und die liebevolle Pflege des gegenseitigen Verstehens.

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