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Das Zeichen an der Wand

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Wer bisher geglaubt hatte, die Sprache Goethes zu sprechen, der wurde zu Beginn dieses Dezenniums recht unsanft aus seiner Träumerei geweckt. Denn Deutsch erwies sich in diesen Tagen nicht mehr sosehr als die Sprache der Gebildeten. Es schien vielmehr die Sprache einer Elite des Ungeistes geworden zu sein. „Juden rausl“, dieses ungeistreiche Wort stand auch da, wo seit Jahrzehnten kein Bürger jüdischer Abstammung aufgetreten war, und es war auch da zu lesen, wo sonst kein einziges anderes deutsches Wort die Auszeichnung besitzt, in aller Öffentlichkeit zu prangen. Es wurde in doppeltem Sinne sinnlos gebraucht: in Deutschland als Beleidigung für Leute, die man gar nicht kennt, und im Ausland als Bekenntnis zu einem Deutschland, das es, Gott sei Dank, und dies sei besonders betont, nicht mehr gibt.

Zunächst hat in Deutschland weder die Bundesregierung noch die Bevölkerung einen Zweifel darüber gelassen, daß sie damit nichts zu tun haben will. Das Vorgehen der offiziellen Stellen mag manchen Lausbuben neuen Anreiz zum Schmieren gegeben haben, das auf einmal so herrlich gefährlich wurde. Aber das mußte in Kauf genommen werden, selbst dann, wenn neuere Schmierereien Unwillen im Ausland erzeugen sollten. Der Hinweis darauf erwies sich diesmal als richtig. Tatsächlich sind aus England antideutsche Maßnahmen von Privaten bekanntgeworden. Das ist zwar insofern zu bedauern, als es die Argumente der über die Schmierereien Empörten in Deutschland abschwächt, aber anderseits mag es auch heilsam sein für jene, die bisher immer geglaubt hatten, solche Torheiten würden vom Ausland weiter nicht beachtet.

Insgesamt gesehen, ging diese Aktion gewiß von Leuten aus, die Opposition um der Opposition willen machen wollten und, wie ein Jüngling in London offen zugab, dabei auf den richtigen Einfall kamen, die Welt ließe sich mit Hakenkreuzen noch am ehesten ärgern. In der Tat ist die Zahl derjenigen, die sich ärgern und empören ließen, überall und besonders auch in Deutschland größer als die Zahl der Schmier-finke. Mit dieser Überlegung kann man es überall bewenden lassen, nur nicht in Deutschland. Denn hier liegt das Problem schwieriger. Hier gibt es eine Schicht, der das Hakenkreuz einmal „heiliges“ Symbol war, und diese Schicht ist zum großen Teil auch wieder in den alten Stellungen. Die meisten von ihnen haben heute ihren Irrweg eingesehen. Deshalb ist eine generelle Überprüfung, wie sie schon vorgeschlagen wurde, unmöglich. Sie träfe Leute, die heute loyale Bürger sind und durch solche Maßnahmen unnötig und zu Unrecht brüskiert würden. Wohl aber ist es nötig, auf Anzeichen und Personen zu achten, die, wenn auch vielleicht unbewußt, solchen Schmierereien Vorschub leisten.

Es ist der Versuch gemacht worden, die Schmierereien der vergangenen Wochen als eine vom Osten gesteuerte Aktion hinzustellen. Eine solche Ansicht kann nicht von vornherein abgelehnt werden. Aber man sollte sich hüten, diese Ansicht ungeprüft weiterzugeben. Es sind nämlich in Westdeutschland in letzter Zeit mehrmals Hinweise auf Vorgänge in der nationalsozialistischen Zeit allein deswegen ungeprüft verworfen worden, weil sie aus dem Osten stammen. Da sind einmal die gegen Bun-desvertriebenenminister Prof. Oberländer erhobenen Anschuldigungen. Nach aus dem Osten stammenden Behauptungen soll Professor Oberländer an der Erschießung von 3000 Polen in Lemberg während des letzten Krieges beteiligt gewesen sein. Ganz gleich, ob diese schweren Anschuldigungen wahr sind oder nicht, die nationalsozialistische Vergangenheit Prof. Oberländers, die ihn zwar nicht mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt brachte, aber als deutschen Minister denkbar ungeeignet erscheinen läßt, steht jedenfalls fest. Diese Tatsache läßt sich nicht damit entkräften, daß mar behauptet, ein Rücktritt Oberländers sei ein Triumph für den Osten. Ähnlich ist es mit der Photokopien von Urteilen des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte aus nationalsozialistischer Zeit, an denen in Westdeutschland tätige Richter beteiligt waren und die Dezember vorigen Jahres nach Westdeutschland kamen. Es war gewiß der denkbar schlechteste Start, wenn Studenten des sozialistischen Studentenbundes diese Photokopien zum Gegenstand einer ausgerechnet in Karlsruhe (Sitz des Bundesgerichts) eröffneten Wanderausstellung machten. Aber die Reaktion des bayrischen Landtags, der deswegen eine Überprüfung der genannten Richter ablehnte, entspricht wohl den kühnsten Erwartungen der kommunistischen Drahtzieher. Sollte das Schule machen, so würde Westdeutschland zugeben, daß eine Vorlage auf dem ordentlichen Weg, also nicht Zurschaustellung, sondern Übergabe beim Bundesgericht, nicht möglich ist, und damit würde dieses durchaus ungehörige Verfahren nachträglich noch rehabilitiert.

Es ist wirklich keine neue Masche, wenn Ostdeutschland Westdeutschland verdächtigt, nazistisch gesinnt zu sein. Das ist ja eine der wenigen Legitimationen, die sich Herr Ulbricht und Genossen für ihr Regime erdacht haben. Man würde in Westdeutschland aber letzten Endes der ostdeutschen Propaganda recht geben, wenn man das von dort vorgelegte Material ungeprüft beiseite legen würde. Es ist für die Bundesrepublik keine Schande, wenn Männer in Amt und Würden sind, deren Verbrechen aus der nationalsozialistischen Vergangenheit man nicht kannte. Nur wenn diese Vorgänge, wenn sie bekannt werden, nicht weiter verfolgt werden, entsteht für die Bundesrepublik eine heikle, unter Umständen sogar eine gefährliche Situation. Denn ich kann nicht diejenigen, die Hakenkreuze an die Wände schmieren, besonders streng bestrafen, wenn nicht gleichzeitig alles geschieht, um jene aus den öffentlichen Ämtern zu entfernen und ihrer Bestrafung zuzuführen, die sich unter diesem Symbol schuldig gemacht haben. Insofern ist die Erklärung des Oberbundesanwalts G ü d e, die vom Osten vorgelegten Akten würden auf ihre Richtigkeit geprüft und die dadurch belasteten Richter zur Verantwortung gezogen, ein verheißungsvoller Anfang des Jahrzehnts 1960, wie es ein Skandal war, daß bisher keiner dieser Richter zur Verantwortung gezogen wurde.

So arg die Hakenkreuzschmiererei und das Auftauchen von antisemitischen Äußerungen auch sein mögen, sie haben auch ihr Gutes. Denn eine Demokratie und eine freiheitliche Staatsform kennt nur eine tödliche Bedrohung: die Gleichgültigkeit. Insofern scheint dieser Anfang des Jahrzehnts nicht so düster, wie man annehmen möchte. Denn niemand in der Welt kann billigerweise erwarten, daß die unselige Hitler-Vergangenheit in Deutschland vollkommen ohne Spuren verschwunden ist. Aber die Welt erwartet, daß die Deutsche Bundesrepublik sich auch da mit den Resten dieser Vergangenheit auseinandersetzt, wo es nicht darum geht, kleine Schmierer hinter Schloß und Riegel zu setzen.

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