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Die letzten Tage von Genf

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Niemand kann billigerweise behaupten, daß die Vertreter der Westmächte bei der Genfer Außenministerkonferenz nicht bis an die äußerste Grenze des Möglichen gegangen seien, um die akute Krise in den west-östlichen Beziehungen, die durch den sowjetischen Vorstoß in der Frage Berlin herbeigeführt worden war, zu entschärfen. Eher noch wäre darüber zu debattieren, ob sie, in ihrem Bemühen um eine Entspannung, diese Grenze nicht sogar überschritten haben. Rein militärisch gesehen, war ihr Angebot, die West- Berliner Garnison nicht mit hypermodernen Waffen auszurüsten und unter Umständen auch die Zahl der dort stationierten Truppen zu reduzieren, von untergeordneter Bedeutung, denn lokal ist dieser weit vorgeschobene Dosten keinesfalls zu verteidigen; aber ein solches Offert, und noch mehr die erklärte Bereitschaft, den dort aufgebauten Propaganda- und Nachrichtenapparat praktisch außer Betrieb zu setzen, mußte nicht allein in Berlin beunruhigend wirken und Zweifel über die wirkliche Entschlossenheit und auch die Kraft der Alliierten, die Stadt unter keinen wie immer gearteten Bedingungen dem östlichen Zugriff preiszugeben, aufkommen lassen. Das wurde im Kreise der westlichen Delegationen sicherlich ebenso bedacht wie die Erfahrungstatsache, daß jeder Nachgiebigkeit gegenüber der UdSSR weitere Forderungen von dieser Seite zu folgen pflegen. Solche Erwägungen konnten aber in der außerordentlich schwierigen Situation, in der sich die Außenminister der Alliierten von Anfang an befanden, nicht ausschlaggebend sein.

Von Verhandlungen in dem Sinne, daß der eine wie der andere Gesprächspartner zur Durchsetzung seiner Postulate über DrucknrCel verfügt, unter deren Gewicht schließlich beide sich veranlaßt sehen, soweii nachzugeben, bis ein gemeinsamer N iner ;efundpn ist, davon war in Genf überhaupt nicht die Rede. Der Hinweis auf die unzweifelhafte Rechtsbasis der Alliierten-Position in Berlin war ein allzu leichtwiegendes Argument und in sowjetischen Augen überhaupt keiner Beachtung wert, gegenüber der sowjetischen Drohung, durch ein paar durchaus „friedliche“ Maßnahmen die westlichen Sektoren der früheren deutschen Hauptstadt zu isolieren und so den Westmächten, falls sie die Verbindungen dorthin gewaltsam aufrechterhalten wollten, die Verantwortung für die Eröffnung bewaffneter Feindseligkeiten mit unabsehbaren Folgen" zuzuschieben.

Zu diesem Moment, welches die erstaunlich oder auch für manche bestürzend entgegenkommende und geduldige Haltung der westlichen Außenminister zu einem guten Teil erklärt, kommt noch ein anderes. Eine Beruhigung der internationalen Lage, ohne besondere Rücksicht auf die Frage, wer die bestehenden Spannungen verschuldet hat, ist ein in der westlichen Welt weitverbreitetes und hoch oben auf der allgemeinen Wunschliste stehendes Anliegen. Diesem Verlangen Rechnung zu tragen und jeden nur möglichen Beitrag zu einer Entspannung das heißt zu einer Minderung der ja seit Jahr und Tag latenten Weltkriegsgefahr zu leisten, ist daher ein Gebot, dem sich die Regierungen der großen Demokratien auch dann nicht entziehen dürfen, wenn nicht gerade, so wie jetzt in England, ein Wahltermin beyorsteht und die Erfolgschancen der Regierungspartei durch besondere Anstrengungen um einen Brückenschlag nach dem Osten entscheidend beeinflußt werden könnten. Der beispielgebende Opfermut und die auch in den dunkelsten Stunden des zweiten Weltkriegs bewiesene einhellige Entschlossenheit des britischen Volkes, bis zum siegreichen Ende durchzuhalten, hatten die stärkste Wurzel in den wiederholten Enttäuschungen, die seiner Friedensliebe durch eine Macht bereitet worden war, die jeder angeblich allerletzten Forderung neue Forderungen folgen ließ, bis schließlich das weitestgehende Entgegenkommen und die angestrengtesten Bemühungen der britischen Regierung um die Erhaltung des Friedens den Frieden nicht mehr retten konnten. Diese Lehre ist den westlichen Delegierten in Genf sicherlich in Erinnerung gekommen, und wenn das Verhalten der Gegenpartei auch keinen Anhaltspunkt dafür gegeben hat, so darf man doch annehmen, daß sie auch dort nicht ganz übersehen worden ist. Man wird sich heute in Moskau fragen müssen, ob es sehr klug war. in Genf eine Verhandlungstaktik zu verfolgen, die darauf angelegt schien, den Glauben an eine ehrliche Verständigungsbereitschaft der UdSSR auch bei überzeugten Anhängern der Schule weiland Franklin D. Roosevelts zu erschüttern.

„Die Haltung der Sowjets zeigt uns klar“, so stellte der amerikanische Außenminister nach der ersten Genfer Sitzungsperiode fest, „daß man in Moskau wünscht, West-Berlin in die Sowjetzone einzubeziehen und Deutschland so lange geteilt zu lassen, bis es ganz unter sowjetischen Einfluß gebracht werden kann.“ An der Richtigkeit dieser Beobachtung ist nicht zu zweifeln, aber ein Wunsch ist noch nicht gleichbedeutend mit seiner Erfüllung. Es können dem Hindernisse im W’ege stehen, die unüberwindlich sind. Dieser Gedanke dürfte, wenn nicht schon durch die Genfer Konferenz, so durch das Auftreten des Vizepräsidenten Nixon in Moskau Raum gefaßt haben. Und der bevorstehende Besuch des sowjetischen Partei- und Staatsführers Chruschtschow in den Vereinigten Staaten mag wohl ein Weiteres dazu beitragen.

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