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Ein Mann namens „Beerengelee“

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„KAsiel“ — so nennt er sich selbst abkürzend ironisch (das Wort bedeutet „Beerengelee“) — ist Warschauer. 1911 geboren, studierte er am Konservatorium der Stadt Musik, an der Universität Polonistik und schrieb vor dem Krieg in liberalkonservativen Zeitschriften. Die Jahre 1938/39 verbrachte er in Paris, kurz vor Kriegsausbruch war er als Musikkritiker am polnischen Rundfunk tätig. Als Klavierspieler für private Gelegenheiten überlebte er die ersten Jahre der deutschen Besatzung; nebenbei arbeitete er für die Propagandaabteilung der von London aus gesteuerten Untergrundarmee, der „AK“. 1944, beim Warschauer Aufstand, wurde er leicht verwundet, seine Frau und sein eineinhalb jähriger Sohn wurden nach Deutschland verschleppt, wo sie 1945 in Passau von den Amerikanern aus einem Lager befreit wurden. Nach dem Krieg wohnte Kisielewski — bis 1961 — in Krakau, schrieb“, für den katholischen' „Tygodnik Powszechny“,' war bis 1949 Professor an der Hochschule für Musik und Redakteur der Zeitschrift „Ruch Muzypzny“. Zwei Romane veröffentlichte er 1947 und 1948 („Die Verschwörung“ und „Verbrechen im Nordbezirk“). Politisch verstummte Kisielewski zu Beginn der stalinistischen Jahre, vollends 1953, als seinen Freunden und ihm der „Tygodnik Powszechny“ entzogen wurde; die Redaktion hatte sich geweigert, einen Nachruf auf den toten Stalin zu drucken. Anfang 1957 erst kehrte Kisielewski mit Leidenschaft ins politische Leben zurück. Er wurde Abgeordneter von Breslau (Wroctaw) und erhielt den Musikpreis der Stadt Krakau (als Komponist schuf er zwei Symphonien, ein Ballett, Kammermusik, Film- und Theatermusik). Sammlungen politischer Aufsätze und Reportagen erschienen 1949 und 1960, Kriminalromane, unter dem Pseudonym Theodor Klon, 1958 und 1960 Dazu kamen noch einige Bücher in denen er sich mit musikalischen Themen auseinandersetzt

Am Ende der Wahlperiode 1961 bemerkte Kisielewski scherzhaft und hintergründig von der Tribüne des Parlaments: ob er an dieser Stelle wiedererscheine, das hänge von den Wählern ab — „von denen unten — und von denen oben“ (und blinzelte auf die Regierungsbank). Da den Kommunisten das „Enfant terrible“ nicht unlieb ist, weil es durch spitzige Reden der Langeweile im Parlament entgegenwirkt, setzton sie Kisielewski auch 1961 wieder aul die Liste der Nationalen Frönt. Im Wahlkreis'i0sMilce, -elrtenr der ärmsten und politisch schwierigsten in Polen, überflügelte „Kisiel“ seinen kommunistischen Listenkollegen, erreichte aber auch nur 93 Prozent der Stimmen — eine der niedrigsten Ziffern im Lande. Zum allgemeinen Erstaunen wurde Kisielewski nicht nur in die Kulturkommission des Sejm aufgenommen, sondern auch — als einziger Parteiloser — in den wichtigsten Ausschuß für Innere Angelegenheiten. In den Ausschüssen, aber auch im Plenum des Sejm gelingt es Kisielewski und seinen Freunden zuweilen, mit Änderungsanträgen zu Gesetzen durchzudringen.

„Ich betrachte es als einen der größten Fehler, unser Regime oder System als etwas Unveränderliches zu betrachten“, schrieb Kisielewski am 13. Jänner 1962. „Jedes Regime, auch das autoritärste, ist nur ein Rahmen, eine Form, in die erst die Menschen Inhalte gießen... Man mag sagen, daß die Partei regiert und niemand außer der Partei etwas zu sagen hat... Aber die Partei selbst ist in ständiger Veränderung, sie ist kein Monument.“

Nicht immer sind die Pfeile, die Kisielewski schießt, so identisch mit dem wunden Punkt, den er trifft. Es sind zuweilen auch Schüsse über die Zäune und Tabus, politischen, gesellschaftlichen, nationalen. Man lese nur seine Deutschlandreportagen, die auf beiden Seiten Staub aufwirbelten — weil er keine Klischees respektiert und selbst in keines paßt. Die kommunistische Presse in Polen warf ihm „bestürzende Sorglosigkeit gegenüber der revanchistischen Aktivität“ vor („Try-buna Robotnicza“), die deutschen Vertriebenenfunktionäre ließen Kisielewski als „kommunistischen Mitläufer — oder soll man Quisling sagen?“ beschimpfen und behaupteten rundweg, „ein Parteibuchkom-munist hätte auch kein anderes Fazit gezogen“ über die Bundesrepublik (Herbert Hupka in „dod“). Unbeirrt schlägt Stefan Kisielewski dennoch seine „Nägel ins Hirn“ — so der langjährige Titel seiner allwöchentlichen Glosse im „Tygodnik Powszechny“. War es Resignation, die ihn veranlaßt, vor einiger Zeit diesen Titel zu ändern? „Mit dem Kopf durch die Wand“ heißt es jetzt...

Der Hofnarr der Volksrepublik ist in den langen, schwierigen Jahren nicht jünger geworden — auch nicht närrischer, eher nachdenklicher. Nie wird er die Bretter achten, die andere vor dem Kopf tragen. Aber soll er mit dem eigenen Kopf durch die Wand?

„Die Idee eines Polens in den heutigen Grenzen und im,, Bündnis “mit Rußland entspricht mir. Vielleicht deshalb, weil ich -mir eine andere Form des polnischen Staates in den gegenwärtigen Zeiten nicht vorstelle; weil ich in diesem Land geboren bin, mein Leben lang wohnte und hier sterben will. Weil ich doch ein Staatsmensch (panst-wowiec) bin und Völker ohne Staat nicht mag — welches System auch immer der Staat hat und welche Vorbehalte gegen dieses System auch ich hätte. Nur ein bescheidenes Postulat habe ich: daß in meinem Staat Sinn und Verstand herrsche. Einfacher, gesunder Verstand. Ist das zuviel verlangt?“

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