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Hallsteins Abgang

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Die deutsche EWG-Politik befindet sich in einem entscheidungsschweren Stadium, das wahrscheinlich nicht jedermann in seiner ganzen Bedeutung wahrnimmt. Für aller Augen sichtbar wird es gekennzeichnet durch die Verzichtserklärung des Präsidenten Hallstein, den Vorsitz in der fusionierten Exekutive der europäischen Gemeinschaften nicht zu übernehmen.

Tatsächlich geht damit eine ganze Ära zu Ende. Der Sieger ist das Frankreich de Gaulles. Trauer anlegen müssen die Integralisten.

Die französische Kanonade gegen Hallstein war seit Jahr und Tag im Gange. Sie schwieg, so lange Hallstein in Brüssel die Politik betrieb, die den französischen Interessen entsprach, so lange er also die römischen Verträge so streng wie möglich auslegte. Das geschah vor Jahren in den Verhandlungen über den Beitritt Englands. Da nahm Hallstein eine Haltung ein, die Paris aufs beste gefiel.

Unabhängig davon erregte er jedoch das Mißfallen de Gaulles am laufenden Bande. Aber die Abneigung des Generals galt -weniger dem Mann Hallstein als dem Präsidenten der EWG-Kommission, der aus Brüssel die europäische Hauptstadt machen wollte, der bei der EWG akkreditierte Botschafter empfing, der Umgang mit Regierungschefs und Staatsoberhäuptern hielt.

In der Tat war für Hallsteins Begriffe die EWG-Kommission der Kern der ersten europäischen Regierung. Aber hier irrte er. So scharf sein Verstand und sein Intellekt sind, hier ließen sie ihn im Stich. Hier verdrängte das Wollen die kühle Vernunft. Sein Verstand warnte ihn nicht davor, übers Ziel hinauszugreifen. Er mahnte ihn nicht, ein gemesseneres Tempo einzuschlagen. Hallstein wollte Europa zu schnell und zu umfassend.

Daher war er entschlossen, den Schrittmacher für die nationalen Regierungen und Bürokratien zu spielen. Aber er unterschätzte deren Beharrungsvermögen und Hang zur Macht. Anderseits überschätzte er den Schwung der Integration und ihre Fähigkeit, mit diesen Rivalitäten fertig zu werden. De Gaulle wollte in Brüssel nicht eine allmählich heranwachsende europäische Regierung. Er wollte dort eine Verwaltungsbehörde, die ausführt, was die Regierungen beschließen.

Deshalb waren ihm die Kommission in Brüssel, so wie sie auftrat, und erst recht deren Präsident, wie er sich in Szene setzte, ein Dorn im Auge. Einmal bezeichnete er sie sogar als „vaterlandslose Technokraten“.

Hallstein hat die Entwicklung kommen sehen und die Gefahr am Ende auch richtig eingeschätzt. Schon rein formal hatte er sein Konto überzogen. Die Väter der römischen Verträge hatten niemals daran gedacht, daß ein Präsident ganze zehn Jahre an der Spitze der Kommission bleiben sollte. Aber Hallstein hat dennoch seinen Part gegen alle Fährnisse durchgestan- den, bis er nicht mehr zu halten war.

Dennoch bestand bei den Verantwortlichen in Bonn in jüngster Zeit der Eindruck, Hallstein werde in Brüssel bleiben. Man glaubte an einen gewissen Wandel in der fran-

zösischen Grundhaltung. Auch gab man etwas darauf, daß die Franzosen viel von Hallsteins außerordentlichen Verdiensten redeten und von den Erfahrungen, die man schlechterdings nicht entbehren könne. Aber in Bonn wurde wohl nicht überall durchschaut, daß diese über-freundlichen Töne schon den Abge-sang einläuteten, nicht einen neuen Akt mit neuen Höhepunkten. Hallstein dürfte das klarer gesehen haben. In seiner Brüsseler Anfangszeit hätte er vielleicht solche französischen Bekundungen ebenfalls zu hoch veranschlagt. Inzwischen hat er indessen manches hinzugelernt.

In Bonn täuschte man sich daher, als man annahm, HaUstein werde noch für ein halbes Jahr den Präsidenten der neuen Superkommdssiion abgieben und dann vielleicht sogar als einfaches Mitglied der Kommission ins zweite Glied treten. Seine geschliffene Sprache, die bei Verhandlungen oft mehr verdeckt als sie aussagt, mag dazu verführt haben.

Wenn Hallstein geht, bleiben mit dem Belgier Rey, dem Holländer Mansholt und dem Franzosen ; Marjolin noch immer markante 1 Anhäinger der beschleunigten Integration zurück, vorausgesetzt, daß Marjolin von Paris wieder ernannt wird. Rey, früher belgischer Wirtschaftsminister, der voraussichtlich der erste Präsident der neuen Kommission sein wird, ist ein Mann von jenem internationalen Format, das er gerade jetzt in der Kennedy-Runde bewährt. Aber bei aller Achtung vor ihnen allen, der Tag der Verzichtserklärung Hausteins markiert, daß der Kommission in Brüssel das politische Rückgrat zumindest erheblich angebrochen ist.

Die Initiative für die weitere Entwicklung der EWG liegt nun so gut wie ausschließlich bei den Regierungen. Schon auf der römischen Gipfelkonferenz anläßlich der Zehnjahresfeier der Unterzeichnung der römischen Verträge wird sich zeigen, wohin der neue Kurs geht.

Frankreich hat sich bereit erklärt, in Rom über Englands Beitritt zu verhandeln. Aber das bedeutet noch längst kein Ja. Vielmehr werden die anderen sich mit der französischen Frage auseinandersetzen müssen, ob der Beitritt Englands und anderer Staaten nicht eine Änderung der römischen Verträge nötig mache, die vielleicht nicht mehr als eine große europäische Freihandelszone übrig ließe. In Bonn steht man noch zwischen den Feuern, weiß nicht recht, was die Briten und was die Franzosen beabsichtigen und sucht noch nach dem Weg, welcher der richtige sein könnte.

Hallsteins Verzicht steht daher genau an der Wende von einem Abschnitt der europäischen Zusammenarbeit zu einem anderen, dessen Umrisse noch im Dunkeln liegen.

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