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JEAN REY / DER FAVORIT VON BRÜSSEL
Der Verzicht des bisherigen EWG-Präsidenten Hallstein auf das Amt des ersten Präsidenten, der neuen, aus EWG, Euratom und Montanunion entstehenden Superbehörde, bedeutet für die-europäische Bürokratie Brüssels, aber auch für die Integrationspolitik aller sechs EWG-Staaten eine tiefe Zäsur. Doch der Mann, dem man die meisten Chancen einräumt, Hallsteins Rolle als „Europa-Lotse“ zu übernehmen, steht schon in Brüssel bereit: Der Belgier Jean Rey, EWG-Außen-kommissar, als Chefdelegierter der EWG bei der Kennedy-Runde vor kurzem wieder als erfolgreicher Unterhändler bestätigt, scheint vor allem der Favorit de Gaulles und der französischen Regierung zu sein.
Mit dem Nachrücken dieses belgischen Liberalen könnte einerseits eine gewisse Kontinuität gewahrt bleiben *• Rey hat immerhin fast ein Jahrzehnt als „Außenminister“ der EWG an der Seite Hallsteins gearbeitet; anderseits kommt aber sein persönliches Europakonzept den Vorstellungen de Gaulles in den verschiedensten Akzentuierungen und Nuancierungen näher als etwa die Politik Hallsteins oder die des EWG-Vizepräsidenten, des niederländischen Sozialisten
Mansholt. Vielleicht spielt dabei unter anderem auch eine Rolle, daß Rey schon immer als „frankophil“ gegolten hat. Immerhin ist er schon seit 35 Jahren Mitglied bei den „amities francaises“.
Der 1902 in Lüttich geborene Wallone, Sohn eines protestantischen Pfarrers, ist Doktor der Rechte. Von 1926 bis 1935 war er Anwalt am Berufungsgericht in Lüttich. 1935 wurde er in den Gemeinderat von Lüttich gewählt, 1939 zog er nach Brüssel in das belgische Parlament. Sieben Jahre wurde dann seine politische Karriere unterbrochen: Als Hauptmann der Reserve geriet er nach dem deutschen Überfall in Kriegsgefangenschaft. 1946 kehrte er in das Parlament zurück und behielt sein Mandat bis 1958, bis zu seinem Eintritt in die EWG-Kommission. 1948 vertrat Rey Belgien in der Vollversammlung der Vereinten Nationen in Paris, von 1949 bis 1950 war er als Minister für den Wiederaufbau, von 1954 bis 1958 als Wirtschaftsminister Mitglied der belgischen Regierung. In diesem Ressort vertrat Rey eine betont liberale Wirtschaftspolitik, und auf dieser Ebene traf er sich dann auch mit Haustein und den anderen überzeugten Verfechtern einer Marktwirtschaft, wie sie die Bundesrepublik entwickelt hatte.
Zu den Agenden eines Außenkommissars der EWG zählen auch die Assoziierungsverhandlungen mit dritten Ländern, also auch mit Österreich. Bei dieser und bei anderen Gelegenheiten konnte sich Jean Rey als em hervorragender Diplomat erweisen. Seine diplomatischen Fähigkeiten werden ihm auch von niemandem abgesprochen. Das, was ihm manche zum Vorwurf machen, ist eine gewisse politische Profil- und Farblosigkeit. Doch vielleicht ist eine solche Eigenschaft in Brüssel heute zur Notwendigkeit geworden. „Wenn man eine Gemeinschaft will, die funktioniert, dann muß man an ihre Spitze Leute setzen, die auch in der Lage sind, diese Gemeinschaft zum Funktionieren zu bringen.“ Ob Jean Rey, von dem dieser Satz stammt, der Mann ist, die neue Behörde in Brüssel zum Funktionieren zu bringen, wird sich erst zeigen.
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