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NS - Selbstfahrlafette ?

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Unter diesem Titel nimmt in einem Leitartikel des „Rheinischen Merkur“ Paul Wilhelm W!en-g e r zur „schizophrenen Zweigleisigkeit unserer Politik“ Stellung. Wenger bezieht sich auf-Bonn, interessieren sollte man sich für seine “Ausführungen aber auch in Wien.

„Die Welt erträgt es sowenig wie die Einsichtigen unter uns, wenn ganze Ketten von Richtern und Beamten einen Euthanasieverbrecher vom Schlage Heydes decken, wenn es der riskanten Privatinitiative junger Studenten überlassen bleibt, die Durchdringung unserer Justiz mit schwer belasteten NS-Sonderrich-tern aufzudecken, bevor die Verjährungsfrist für Totschlag abläuft, weil die von Amts wegen Berufenen angeblich keine sicheren Unterlägen finden.“ „Als Wurzel dieser moralischen Lähmung enthüllt sich ein permanentes Versagen der Parlamente gegenüber jenen Teilen der Exekutive, die systematisch eine Automation des wohlbezahlten Vergessens betreiben und aus der moralischen Haftung für das Dritte Reich eine beamtenrechtlich fundierte geistige Spurfolge herleiten. Jetzt soll die Perversion ihren Abschluß dadurch erfahren, daß 23,000 .verdrängte' Beamte, die nicht ihren früheren Stellungen (im Dritten Reich) entsprechend beschäftigt werden, mit Wirkung vom 8. Mai 294*5 in den Ruhestand versetzt werden sollen, mit der Zugabe, daß ihnen die Differenz zwischen jetzigem Gehalt und dem ihres Dienstgrades aus der Pensionskasse gezahlt werden soll. Und rund 10.000 nicht mehr verwendbare Beamte, die an einer Wie dereinstellung .interessiert' sind, sollen Pensionen erhalten unter Bezahlung der Differenz zwischen ihrem jetzigen Verdienst und dem Gehalt, auf das sie bei Verwendung in ihrem früheren Dienstgrad Anspruch hätten ...“

Wenger weist in diesem Zusammenhang auf eine Mahnung des katholischen Lehrerverbandes Bayerns hin, der feststellt, daß heute viele ehemalige „wirkliche Nazilehrer — nicht solche, die widerwillig zu einer Funktion gezwungen waren — wieder als Erzieher in den Schulen oder gar als Behördenleiter tätig seien“.

Diese beiden Phänomene verdienen alle Beachtung auch in Österreich: wo durch eine „Automation“ beamtenrechtlich, und geschoben von mächtigen Schirmherren, sehr Ehemalige wieder in wichtige Führungsstellen eingerückt sind und als Vorgesetzte ihrer von Haus aus staatstreuen „Untertanen“, von Beamten und Angestellten niederen Ranges, zu deren Demoralisierung beitragen, weil sich eben gezeigt hat: Macht geht vor Recht, Protektion — nicht selten durch Parteifreunde der „Unterlegenen“ — geht vor Ethos. Gegen diese systematische Korrumpierung der Staatsmoral empfiehlt Wenger zwei Mittel, die — modifiziert — auch in. Österreich versucht werden sollten. Da könnte sich zeigen, ob es in den Reihen unserer Herren Abgeordneten zum Nationalrat und bei anderen politisch Verantwortliche!) Persönlich-' keiten noch Zivilcourage gibt, den persönlichen Mut zur Verteidigung des Staates gegen seine Zersetzung.

„Der Bundestag... sollte mit den Instrumenten der Anfrage und der Unte r-suchungskommission die Pestherde ausbrennen. Warum läßt er es sich bieten, daß just in diesem Augenblick der ob seines Kriegstagebuches berüchtigte Ostexperte Doktor Bräutigam über das Auswärtige Amt mit dem großen Bundesverdienstkreuz dekoriert worden ist? Warum greift er nicht ein, wenn der neuernannte Botschafter Dr. Strack ausgerechnet den ehemaligen Chefredakteur der H]-Zeitschrift ..Wille und Macht“, Günther Kaufmann, in seine Botschaft nach Südamerika mitnehmen wollte? Warum duldet er die Durchsetzung des Vertriebenenministeriums mit NS-bewährten Ostpolitikern, warum durchleuchtet er nicht die Subventionierung völkischer Organe und unzweideutiger HS-Aktivisten unter den Exilpolitikern?... Warum schweigt er, wenn im ,Reichsruf der DRP ... die gegen den Euthanasieexperten Heyde vorgehenden Justizbehörden als .Hexenrichter' diffamiert und gelähmt werden sollen?“

Nun: die entsprechenden Fälle in Österreich aufzuzeigen, wäre Aufgabe unserer Abgeordneten und Politiker, die sie sehr gut kennen, aber aus Gründen der „Parteidisziplin“ und Taktik nichts unternehmen. Wir sind vielleicht noch weit von den nächsten Wahlen entfernt: bis dahin aber wird das österreichische Volk Gelegenheit haben, sich die. österreichische politische Praxis seiner Mandatare in den beiden Regierungsparteien wacher und genauer als-bisher anzusehen, inwieweit sie die schleichende politische Inflation, die Zersetzung der Demokratie und des Willens zur Selbstbehauptung fördern, vielleicht in der Hoffnung, im trüben fischen zu können, oder in welchen konkreten Fällen sie sich, in aller Öffentlichkeit und intern, tatkräftig einsetzen. So daß die sattsam bekannte Glosse nicht noch mehr harte Realität gewinnt: „Oben“ unterhalten sich zwei höhere Beamte, gute Freunde von gestern — der eine ist über „Rot“, der andere über „Schwarz“ wieder in führende Positionen eingerückt — ironisch über ihre „Untertanen“, ihre dienstlich Untergebenen: „Diese dummen kleinen schwarzen und roten Schweine — was wollen sie denn schon?“

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