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Digital In Arbeit

Siegreiche Verlierer— glückliche Sieger

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Nun ist also alles vorüber: die Wochen vor der Wahl in Kerala, und dann die drei, vier Tage, bis die Ergebnisse endlich vorlagen.

Man hat sich die Arbeit wahrhaftig nicht leicht gemacht; vor allem die Kommunisten nicht, die wußten, was für sie auf dem Spiele stand. Sie haben mehr Propaganda getrieben als die anderen Parteien zusammen. Sie haben den direkten Kontakt gefunden zu den Menschen, die nichts haben als das Hemd auf ihrem Leibe und die große Verbitterung über die Ungerechtigkeit, die Armut und das Elend, in dem sie leben.

Natürlich, auch die anderen, die Männer der Kongreßpartei, die Sozialisten, die Moslemliga und die Unabhängigen sind mit ihren Prozessionen durch die Straßen gezogen, haben ihre Reden gehalten und ihre Plakate geklebt. Auch sie haben ihre Hausbesuche gemacht und dem kleinen Mann gezeigt, wie er zu wählen habe, aber die Einheit der Revolutionstage im letzten Jahr? Sicher, man hielt immer noch zusammen, doch die große Begeisterung für die Sache des Volkes war verrauscht, der Parteimann wollte auch wieder zu seinem Recht kommen...

Am Schicksalstag, dem ersten Februar, schien plötzlich alle Aufregung verflogen. Die Fahnen, die Slogans, die Ehrenpforten standen verlassen. Sogar die arme schwangere Flory, die bei den Schießereien im Vorjahr getötet wurde und jetzt auf den Plakaten der Vereinigten Parteien (oft sehr realistisch) prangte, schien vergessen. Die Lautsprecherwagen, die Autos mit ihren Fahnen und ihren Parteirednern hatte man in die Garagen schieben müssen, und die nähere Umgebung der Wahllokale mußte absolut gesäubert werden. So wollten es die Bestimmungen.

Trotzdem, in gesetzlicher Entfernung saßen die Parteimänner, kontrollierten die Wähler, suchten Schwankende umzustimmen und die eigenen Leute möglichst vollzählig beizubringen. Es kam natürlich auch zu einzelnen Schlägereien, aber bei dem starken Polizeischutz verliefen sie mehr so am Rande ...

Bereits um zehn Uhr morgens war die Abstimmung im Wesentlichen beendet. Die Methode war einfach. Jeder brachte seinen Schein mit Namen und Nummer mit, den man gegen den Wahlzettel eintauschte. Dann bekam er auf die linke Hand mit unauslöschlicher Tinte einen Stempel (der allerdings doch nicht ganz so unauslöschlich war...), damit keiner zweimal wählen konnte, ging hinter einen Vorhang, drückte einen Stempel auf das Zeichen seiner Partei, faltete den Zettel zusammen und warf ihn vor den Augen der Wahlmänner in eine Urne. Früher, als die Kontrolle noch nicht so streng war, konnte man den Wahlzettel noch mitnehmen (unausgefüllt natürlich I) und ihn dem Meistbietenden verkaufen.

Man stimmte mit Begeisterung. Wahlbeteiligung 90 Prozent. Die Frauen kamen so gut wie die Männer. In einem Falle mußte die werdende Mutter schnell aus dem Wahllokal nach Hause gefahren werden, weil sonst das Kind an Ort und Stelle schon politische Erziehung bekommen hätte. Eine andere bekam morgens um sechs ihr Kind und stimmte um zwölf. Die Fischer von Trivandrum, die die Nacht über gearbeitet hatten, gingen mit ihrer ganzen Beute erst zum Wahllokal und dann nach Hause. Ein '^alteij./Mänii “von 103 Jahren stimmte stolz als “ ersterV.fongreß!

Ist wirklich kein Betrug vorgekommen? Das kann man schwer kontrollieren. In Kerala gibt es keine Einwohnerlisten. Die Ärmeren wechseln oft ihren Wohnhort und manchmal auch ihren Namen. So kann man eventuell an zwei Orten Wahlzettel bekommen f Eine Gruppe von 600 Leuten erhielt zum Beispiel 70 Wahlzettel zuviel. Die Kommunisten haben von auswärts Ersatzmänner geholt, um solche Möglichkeiten zu nutzen, und ob die anderen wirklich zu ehrlich dafür waren? Jedenfalls stimmten mehr, als eigentlich stimmberechtigt waren (8,193.127 zu 8,038.262) Das kam aber hauptsächlich daher, daß die sogenannten Depressed Classes (die fast ganz in Händen der Kommunisten sind) zweimal stimmen durften. Auch ein KuriosumI *

Der Wahltag war vorbei. Aber das endgültige Ergebnis ließ lange auf sich warten. Man hatte es nicht so eilig, schließlich will auch ein armer Wahlarithmetiker essen, trinken und — schlafen, wenigstens hier in Indien! Am 2. Februar, abends um sechs, waren schließlich 22 Distrikte bekannt. Nur drei Kommunisten waren vorerst durchgekommen, unter ihnen der frühere Ministerpräsident Nambudiripad und sogar Achuta M e n n o n, der als Polizeiminister für die Schießereien im vergangenen Jahr verantwortlich ist.

Am 4. Februar war es endlich so weit. Das Schlußergebnis lag vor. Etwas überraschend! Man hatte nach Distrikten gewählt. Wer in einem Distrikt die meisten Stimmen erhalten konnte, bekam einen Sitz und hatte somit gewonnen. Das allein wurde den Kommunisten zum Verhängnis, denn stimmenmäßig standen sie mit 36,6 Prozent immer noch an erster Stelle! Die Sitze verteilen sich jedoch wie folgt:

Damit haben die Kommunisten die Stimmenmehrheit und praktisch 30 von 126 Sitzen, die vereinigten Parteien (Kongreß, Sozialisten, Moslemliga) 94, eventuell 96, wenn die zwei Unabhängigen noch dazustoßen. Die Stimmverteilung: 54,07 Prozent (vereinigte Parteien) zu 44,53 Prozent (Linksparteien).

Man fragt sich nun in Europa, wie ein solches Ergebnis möglich war? Vor einem halben Jahr hatte das Volk die Kommunisten noch „wegen Unfähigkeit“ nach Hause gejagt, im Norden stehen die Chinesen auf indischem Boden und im Süden erringen Kommunisten immer noch die Stimmenmehrheit!

Nun, was im Norden vor sich geht, darum kümmert sich in Kerala niemand. Das alles ist weit weg. Für die Menschen, die in Armut groß geworden sind, gelten andere Maßstäbe. Die Jahrhunderte der Unterdrückung haben sie zu Materialisten gemacht, denen das Hemd näher ist als der Rock, den viele von ihnen übrigens nicht einmal besitzen! Was hat ihnen da schon Nehrus Politik zu sagen! Seine Gedankengänge sind ihnen zu kompliziert, primum vivere!

So stehen die vereinigten Parteien vor schweren Jahren. Werden sie das Elend der Massen lindern? Werden sie endlich mit der Korruption Schluß machen? Werden sie auch junge Kräfte zum Zuge kommen lassen? Werden sie überhaupt vereinigt bleiben? Wird die dünne Oberschicht aus den traurigen Erfahrungen der letzten Jahre die Konsequenzen ziehen? Ja, wird Kerala überhaupt allein mit seinen Schwierigkeiten fertig werden ohne Hilfe von außen, ohne Industrie„ ohne größere Investitionen? -

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