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Student ohne Illusionen

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Nach Kriegsende mußte der Wiederaufbau der deutschen Universitäten nach zwei Seiten hin in Angriff genommen werden. Einmal galt es, äußere Fragen zu lösen, wie die Beschaffung von Räumen für zerstörte Univer- sitätsgebäude, Auffüllung vOn vernichteten Bibliotheken und Neubau des Lehrkörpers. Diese Frage berührt - schon die zweite, wesentlichere und schwierigere Seite des Neubeginns der deutschen Universitäten, nämlich die Reform des Hochsdiulbetriebes selbst, ihres Bildungs- und Wissenschaftsbegriffes und ihrer Aufgaben nicht nur im Raume der Forschung, sondern auch für das Lebera

Heute arbeiten die westdeutschen Universitäten wieder annähernd normal. Die Raumfrage wurde teilweise provisorisch gelöst; in der Lehrmictelbeschaffung sind unvorstellbare Schwierigkeiten zu überwinden, sowohl vom einzelnen Studenten wie auch von den Universitäts- und Seminarbibliotheken. In der amerikanischen Zone Deutschlands hört man immer wieder, daß wissenschaftliche Institute der USA sehr großzügig Hilfe leisten; aber im ganzen gesehen bleibt das ein Tropfen auf einen heißen Stein. Der Lehrkörper der Universitäten wies bei Wiederbeginn seiner Arbeit im Wintersemester 1945 46 durch Verluste im Krieg, durch Emigration und nicht zuletzt durch die Ausschaltung ehemaliger Parteimitglieder der NSDAP empfindliche Lücken auf. Heute ist der Neubau des Lehrkörpers im großen und ganzen abgeschlossen; nach der Entnazifizierung traten viele Professoren wieder in ihr Amt, andere Plätze wurden durch ostdeutsche Hochschullehrer besetzt, von denen allerdings viele immer noch „Gastvorlesungen“ halten müssen oder „mit der Abhaltung von Vorlesungen beauftragt" sind, auch dort, wo sie schon einige Semester lang ein unbesetztes Ordinariat wahrnchmen.

Die innere Situation der deutschen Univer sitäten ist schwieriger zu umreißen. Was zunächst die Studenten angeht, so haben die Hochschullehrer es allein schon in be.ug auf den katastrophalen Schwund der Bildungsgrundlagen und die sich in Deutschland unter den Besatzungsmächten herausbildenden verschiedenen Erziehungsprogramme nicht leicht, eine wissenschaftliche Tradition herzustellen. Erschwerend für ihre Arbeit ist auch die Mentalität der studentischen Kriegsund teilweise auch Nachkriegsgeneration. Diese Jugend ist gutwillig und aufgeschlossen, ja lebens- und geisteshungrig. Aber sie ist mißtrauisch, skeptisch - und ohne „Illusionen"; sie läßt niemanden an,sich heran, der sich nicht in ihrem Sinne, und das heißt vor allem menschlich, bewährt hat. Die Studenten arbeiten gut und sebr fleißig, meist unter großen materiellen Opfern, und verdienen sich selbst die Stud’iengelder. Bei der Bewältigung des Fachstudiums haben die wenigsten, trotz vielen Bildungslücken eines großen Prozent- satzes von ihnen, Schwierigkeiten; aber sie tun ihre Arbeit „etwa, wie man Autofahren lernt“, erklärte mir ein Frankfurter Hochschullehrer; es fehlt die Ruhe und Sicherheit, um gesammelten Wissensstoff im inneren Besitz zu verwandeln. Und doch wollen sie mehr als bloßes Fach- oder Brotstudium und mehr auch als „Bildung der Persönlichkeit". Die innere Not ist groß — man will keine theoretische Erkenntnis der Wahrheit, sondern sucht sie in ihrer strengsten und verbindlichsten Form; man verlangt nach festen Richtpunkten, nach festem Grund und ist gleichzeitig von tiefem Mißtrauen erfüllt gegenüber sogenannten unverrückbaren Wahrheiten und „ewigen Werten“. Diese jungen Menschen wären alle persönlich ansprechbar; es fehlt aber an genügend starken Persönlichkeiten, die nicht nur Wissenschaftler und Forscher sind, sondern auch menschliche Vorbilder. Und so kommt es aucb unter den Studenten, die nach echten und letzten Bindungen suchen, aus einer tiefen Hilf- und Ratlosigkeit immer wieder zur Flucht in einen feingeistigen Idealismus, der bestenfalls ans Religiöse herankommt, nicht aber aus dessen Quellen lebt.

Die kleine, aber entschiedene Gruppe von ausgesprochenen Nihilisten nationalistischer oder nationalbolschewistischer Prägung fällt zahlenmäßig neben dem geschilderten Typus so wenig ins Gewicht, daß sie hier keiner besonderen Erwähnung bedarf.

E bleibt noch ein Wort zu sagen über die Aufgaben der Hochschulreform, soweit sie über eine bloße Wandlung der äußeren Institution hinausgeht. Sie ist gerichtet auf die Wiedergewinnung einer echten Universitas, die, mehr als Vermittlung von Fachwissen, den Menschen bilden und erziehen will, und zwar den Menschen in unserer Welt, in die er heute gestellt ist. Jene lebensfremde und verhängnisvolle deutsche Entwicklung zur Aufspaltung der Welt in eine höhere geistige und eine vermeintlich niedere materielle Sphäre — der Wirtschaft, der Gesellschaft und des sozialen Zusammenlebens, deren Ordnung man allzu weitgehend dem Staat und den Politikern iifcerließ — muß überwunden werden. Die heutige deutsche Jugend braucht neben gründlicher fachlicher Ausbildung eine Erziehung zur „Kunst des Lebens“, etwa im Sinne des angelsächsischen Erziehungsideals. Und noch dringender braucht sie einen Generalnenner, wie das Mittelalter ihn im christlichen Kosmos oder selbst noch das 19. Jahrhundert in humanistisch-idealistischer Gestalt hatte. Dieses allzusehr auf das Nur- Menschliche bauende Weltbild reicht heut nicht mehr, und hier weiterzuhelfen und Wege zu weisen, ist eine der wichtigsten Aufaben der neuen deutschen Universität, an deren Lösung bewußt herangetreten wird.

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