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Trostliches vom Wiener Kongreb

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Die auf dem Wiener Kongreß vertretenen Mächte standen im allgemeinen vor der gleichen Aufgabe wie die heutigen Großen Vier. Auch sie hatten nach dem Sturz einer Gewaltherrschaft, die aus den Fugen gegangene Welt wieder einzurichten. Die Dimensionen sind heute freilich unvergleichlich größer, die Probleme wesentlich komplizierter und weit mehr vom Gespenst des Mißtrauens und Hasses überschattet. Eines ist jedoch . auffallend gleich geblieben: der schleppende Gang der Verhandlungen, die Methode der zähen Verteidigung auch unhaltbarer Positionen und der Verschleierung der wahren Motive, die nationale Besonderheit in der Verhandlungstechnik jedes einzelnen Verhandlungspartners und der pessimistische Eindruck des Ganzen auf die nach Frieden dürstende Umwelt. ...

In dieser. Hinsicht ist manches Interessante dem Tagebuch des Genfer Delegierten beim Wiener . Kongreß, Jean Gabriel Eynard, zu entnehmen. Viele seiner Notizen könnte ein Tagebuchschreiber der heutigen Zeit ohne weiteres übernehmen, und auch der alte Satz „Wien bleibt Wien“ findet so nebenbei manche Bestätigung.

Nachstehend einige Stellen aus Eynards Tagebuchr

„26. Oktober 1814 — Alles scheint darauf hinzudeuten, daß der Kongreß nicht gut von der Stelle koirimt, jeden Tag ergeben sich neue Schwierigkeiten.'

28. Oktober 1814. — Die Angelegenheit des Kongresses verwickelt sich täglich mehr. Man versichert, daß Kaiser Alexander mit Herrn von Metternich einen heftigen Streit gehabt habe. Der Kaiser geriet in Erregung. Er sagte: „Ich habe für diesen Krieg ungeheure Opfer gebracht. Ich will Polen behalten und werde es mit 400.000 Mann verteidigen.“

29. Oktober 1814. — Es ist nicht übertrieben, wenn man heute glaubt, daß diese Zusammenkunft aller Großen Europas, statt die Welt zu beruhigen, dazu beitragen wird, sie nock niehr zu verwirren. Diese Herrscher, die alle Brüder waren, als es sich darum handelte, die Macht Bonapartes zu vernichten, waren also nur aus Not, in ihrem eigenen Interesse verbunden gewesen und nicht durch das edle Ziel, dessen sich alle rühmten, die Völker glücklich zu machen.

31. Oktober 1814. — Es scheint, daß die Zukunft etwas weniger düster ist, und daß man, ohne einig zu sein, weniger entzwei ist.

1. November 1814. — Kaiser Alexander sagte, er würde nicht von seinem Willen abgehen und diesen mit 400.000 Mann stützen.

2. November 1814. — Die Dinge stehen sehr schlecht, und der Kongreß macht nicht den Eindruck, als ob er den Frieden brächte.

4. November 1814. — Man versichert, Frankreich werde seine Gründe durch Drohungen mit einem neuen ^Kriege stützen. Die

Angelegenheiten des Kongresses sind niemals so verwickelt gewesen wie heute.

7. November 1814. — Herr de Noailles: „Frankreich will nichts für sich, aber wir wollen die Schwachen unterstützen, und, wenn man Bonaparte gestürzt hat, ist es nicht geschehen, um einen anderen Herrscher dasselbe System befolgen zu sehen. Frankreich will, daß jedes Volk glücklich sei und innerhalb seiner gerechten Grenzen in Ruhe lebe.“

11. November 1814. — Wir kommen von der Redoute. Als wir mit Anna umhergingen, kamen wir an die Tür eines großen Saales, in dem man eine riesige, sich durcheinanderbewegende Menschenmenge sah, in der alle zugleich redeten. Wir verstanden nicht, was dort vor sich ging, bis wir von Zeit zu Zeit einige mit Kuchen und anderen Speisen bewaffnete Individuen aus dem Gedränge herauskommen sahen. Wir begriffen, es war der Sturm auf ein Büfett, und schon waren wir weniger überrascht. Da wir nicht mit gleichen Kräften mit den ausgehungerten Wienern kämpfen konnten, zogen wir uns zurück.

12. November 1814. — Ein Herr von der russischen Gesandtschaft sagte: „ Ich glaube, daß wir mit einem Krieg abschließen werden. Man kann sich in keiner Sache verständigen.“

17. November 1814. — Heute lauteten die Nachrichten etwas besser. Man hofft, daß Rußland etwas von seinen Ansprüchen aufgeben wird.

19. November 1814. — Kaiser Alexander sagte zum Kaiser von Österreich, er würde eher ein Jahr in Wien bleiben, als von seinen Plänen in bezug auf Polen ablassen. „Ohne ihn würde man vollkommen einig sein“, sagte Herr von Latour.

20. November 1814. — Der Fürst Corsini schien sehr besorgt, er fürchtet, daß der Kongreß auseinandergeht, ohne etwas beschlossen zu haben, und dnß jede Macht gezwungen sei, unter den Waffen zu bleiben. Welch ein Ruin für die armen Völker!

27. November 1814. — Die Nachrichten lauten ziemlich gut und man scheint zu hoffen, daß der Kongreß weniger schlecht ausgehen wird, als man anfangs geglaubt hat.

28. November 1814. — Herr de la Tour I du Pin: „Die Dinge sind weit davon entfernt,gut zu stehen“. — Obgleich man noch nichts erledigt hat, soll doch die Abreise der Herrscher auf den 10. bis 15. Dezember festgesetzt sein. Am selben Tage abends 11 Uhr: Die Nachrichten scheinen besser zu lauten.

3. Dezember 1814. — Die allgemeinen Nachrichten lauten heute nicht gut. Die Dinge sind wieder einmal verwickelter denn je.

4. Dezember 1814. — Die Nachrichten sind sehr schlecht. Fast droht es, um Kriege zu kommen. Der ungewisse Zustand ganz Europas ist für alle Völker schrecklich. Man beklagt sich, daß dieser Friedenszustand schlimmer ist als der Krieg.

5. Dezember 1814. — Die Nachrichten lauten dauernd schlecht.

7. Dezember 1814. '— Der Kaiser von Rubßland trank auf die Gesundheit des Kaisers von Österreich. Dieser antwortete: „Sire, ich trinke ebenfalls auf Ihre Gesundheit und besonders auf ewige Freundschaft“. Kaiser Franz hofft, durch freundliches Verhalten Alexander zu einer Meinungsänderung zu bewegen. Ich halte das für sehr schwierig.

11. Dezember 1814. — Es steht sehr schlecht. Das Übereinkommen zwischen Österreich und Rußland dürfte nicht zustande kommen. Österreich wollte einige Konzessionen, die Alexander abgeschlagen hat.

Cardinal Consalvi: „Es steht äußerst schlecht. Wir gehen einen Schritt vor und zwei zurück.“ Eynard: „Es ist doch beschämend für all diese Könige, daß sie sich nicht einigen können.“ — Consalvi: „Einig waren sie nur in der Not.“ 7 Uhr abends: Der Horizont ist schwarz, schwarz!

17. Dezember 1814. — Man erzählt, daß Kaiser Alexander gestern ganz öffentlich gesagt hätte: „Ich sehe zu meinem Bedauern, daß die Geschäfte nicht freundschaftlich zu Ende gebracht werden können. Man wird Blut vergießen müssen„ das ist jetzt unvermeidlich.“

19. Dezember 1814. — Es verlautet allgemein, daß es mit den Geschäften besser stehe und daß man auf beiden Seiten nachgibt.

21. Dezember 1814. — Die Nachrichten sind weiterhin erträglich.

22. Dezember 1814. — Die Nachrichten nehmen von neuem eine schlechte Wendung. Alexander, der zu bereuen scheint, daß er etwas bewilligt hat, antwortete, daß man seine Ansprüche befriedigen müsse, widrigenfalls er an der von ihm vorgeschlagenen Abmachung nicht festhalten könne. Seit Beginn des Kongresses bewegt man sich in einem Circulus vitiosus, aus dem man nicht hinausfinden kann.

25. Dezember 1814. — Es steht so schlecht als nur möglich. Zwischen den Herrschern beginnt Verstimmung um sich zu greifen. Der Krieg ist nicht ausgeschlossen.

29. Dezember 1814. — Talleyrand sagte: „Es geht besser. Ich habe jetzt die Gewißheit, daß man sich nicht schlagen und daß der Kongreß vor Ende Jänner beendet sein wird.“

Am selben Tage 3 Uhr: Die Nachrichten lauten heute entschieden besser. Es hat eine Gesandtenkonferenz stattgefunden.

5. Jänner 1815. — Die allgemeinen Nachrichten scheinen besser zu sein. Mit unseren, besonderen Angelegenheiten sieht es aber höchst traurig aus.

7. Jänner 1815. — Man scheint allgemein zu hoffen, daß die Dinge freundschaftlich erledigt werden. Man wird sich eher unter dem Drude der Notwendigkeit als aus Überzeugung einigen.

10. Jänner 1815. — Die Nachrichten sind fortlaufend gut. Österreich und Rußland haben sich über die Grenzen in Polen geeinigt.

14. Jänner 1815. — Die Nachrichten lauten heute weniger gut. Wie traurig ist es, daßdiese Menschen sich niemals verstehen wollen oder können. Was für ein babylonischer Turm ist doch dieser Kongreß. Was sind doch die Mensdien für dumme Tiere. Das hat man schon immer behauptet, aber niemals ist diese Wahrheit klarer b-iwiesen worden als auf dem Wiener Kongreß.

25. Jänner 1815. — Die Geschäfte gehen sehr schlecht und äußerst langsam vorwärts. Es geschieht nichts. Wie sehr hatte Kardinal Consalvi redit, als er sagte: „Der Teufel ist nicht mehr, aber die Hölle ist immer geöffnet.“

28. Jänner 1815. — Fürst Corsini versicherte, die ganzen Fragen stünden kurz vor ihrer Erledigung.

5. Februar 1815. — Es heißt noch immer, daß alle Streitfragen so gut wie erledigt sind.

10. Februar 1815. — Wir verlassen Wien nach einem Aufenthalt von vier Monaten und fünf Tagen. Wir lassen dort fast alle Diplomaten unzufrieden mit den getroffenen Anordnungen zurück. Alle sprechen schlecht von einander und jeder schiebt dem anderen die Schuld an dem ärgerlichen Resultat der Verhandlungen zu. Da die großen Fragen erledigt sind, kann man den Kongreß als beendet ansehen.

Der Wiener Kongreß hat bewiesen, daß es Europa an talentvollen Leuten fehlt.

Könige un,d Gesandte sind sehr mittelmäßg.“

Soweit Eynard, ein. Mann von Geist und scharfer Beobachtungsgabe. Den vorstehenden Tagebuchbemerkungen ist ein gewisse Aktualität für unsere Zeit nicht abzusprechen, ausgenommen — selbstverständlich — der letzte Satz. Heute scheint es ja nicht an Talenten zu fehlen. Im Gegenteil, wir leiden in dieser Hinsicht eher an einem gewissen Übermaß an Reichtum und eben die große Begabung der Verhandlungspartner verhindert eine rasche Einigung. Es ist sehr viel Klugheit nötig, um die bestmögliche Lösung zu finden. Aber, wie die Gesdiichte lehrt, wird stets noch weit mehr Scharfsinn aufgeboten, um die schlechteste aller möglichen Lösungen herauszufinden und dauerhaft zu realisieren. Hoffen wir also in dieser Beziehung auf ein glückliches Mittelmaß. ..

Seit dem Wiener Kongreß ist eine geraume Zeit vergangen, aber die grundlegenden Eigenschaften der menschlichen Natur bestimmen auch heute den Gang politischer Verhandlungen. Und so mag es uns ein Trost sein, daß damals das Wellenspiel von Hoffnung und Enttäuschung, von Optimismus und Pessimismus schließlich doch zum Pariser Frieden führte und daß der geplagten Menschheit bis zur nächsten Revolution immerhin eine Atempause von fünfzehn Jahren gegönnt war. Bruno W o 1 f g a n g

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