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Der Geist von Helsinki und die Hagia Sophia

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Die Weisheit in ihrem übermenschlichen Aspekt als Hagia Sophia, nach der Bulgariens Hauptstadt Sofia ja benannt worden ist, hat diesem Landstrich ein köstliches Paradoxon als Geschenk mitgegeben: Der Sonnenglast von der geographischen Breite Nizzas wird hier auf 500 m Seehöhe und durch die Schattentücher des mächtigen Vitoschagebirges angenehm abgekühlt, ohne daß die Leucht- und Schlagschattenkraft vermindert würde. Provence auf slawisch! Das sanftmütigste Klima, wie geschaffen für Friedenskonferenzen!

Dazu eine Schar junger Thrakerin- nen, ehemals kriegerische Amazonen, nunmehr vom Staat im Sinne der Völkerverständigung den Kongreßteilnehmern als Interpretinnen und Betreuerinnen beigesellt. Durchwegs beneidenswert sprachbegabt, bringen es einige sogar dahin, das anmutig Dienstbare mit dem gelassenen Selbstbewußtsein im Stil französischer Hofdamen zu vereinigen.

Und schließlich im dritten Kreis ein Volk, erst seit hundert Jahren in staatlicher Selbständigkeit lebend, allseitig im Aufbruch nach rationaler Erkenntnis. Sie erscheint ihm so schön und porenlos gerundet wie die Wangen besagter Dolmetscherinnen.

Warum soll ich sofort vom Wurm zu reden anfangen, von der Schlange und vom Drachen? Lassen Sie mich noch beim Besten verweilen, bei der Physiognomie der Bulgaren, deren edle, zuweilen düstere Strenge keineswegs mit einem Regime zusammenhängt! Oder bei der Poesie des Sozialismus, einem Gemälde von Karmelo Gonza- lec (geboren 1920), das sich in der Nationalgalerie befindet: Vor uns eine blaue Himmelswand, schadhaft, schäbig und abbröckelnd, als sei sie mit in- digogefarbeltem Mörtel übertüncht. Davor drei Schemel. Auf jeden hingelegt ein Zeichen der neuen Trias: Hammer, Brot, eine Maschinenpistole. Darüber und nicht mehr in der Reichweite der Hände ist in diese Luftwand ein Fenster eingelassen. Auf dem Brett eine Topfbegonie und erst hinter ihr das echte, unerreichbar tiefe und zarte Himmelblau. Von diesem Stilleben „Maschinenpistole mit Blume“ löst man sich nur ungern, um im Luxushotel „Moskwa“ einem Kongreß der Schriftsteller beizuwohnen, dessen Thema lautet: „Der Schriftsteller und der Friede“.

Sind wir aber auch dafür dankbar: für dieses Monster-Hufeisen - die Konferenztische sind ja in Hufeisenform angeordnet - mit dem der Weltpegasus hier neu beschlagen wird. Als

Schmiedemeister der Spitzenklasse aus Ost und West waren auf dem Programm vorgesehen: Michael Scholo- chow, der Schöpfer des Meisterwerks „Der stille Don“, und Mario Vargas Llosa, der Internationale Präsident des P. E. N. Doch erwiesen sich beide Monumente als zu wenig transportabel und tönten die Atmosphäre bloß durch ihre Brieftelegramme.

In den etwa vierzig Referaten gab es gewiß genug der brillanten Formulierungen (Robert Andrė, Frankreich, Josef Reding, Bundesrepublik Deutschland), aber auch guten Willen (Pantelei Sarew, Bogomil Rainov, Bulgarien), um die Dämonen ästhetisch zu verwandeln und zu bändigen, doch immer wieder züngelte eine Flamme zum Friedensgehetze empor, was aber begreiflich und verzeihlich wird, wenn man bedenkt, wie tief bereits die Entzündungstemperatur und Explosionsschwelle in manchen Erdölländern liegt. Daß die Absicht der Bulgaren redlich war, geht für den Österreicher schon daraus hervor, daß neben dem Delegationssprecher Hugo Huppert auch Gertrud Fussenegger ans Rednerpult gebeten wurde, obwohl Präsident Sarev mit einem Überangebot an Wortmeldungen zu kämpfen hatte.

Von ökologischen Erwägungen ausgehend, verlangte Hugo Huppert, daß die Völker, die ja alle im selben Boot säßen (… hoffentlich ist es kein Floß der Medusa von Gėricault…!) auch an demselben Konferenztisch ausharren sollten. Gertrud Fussenegger wagte es als einzige Sprecherin des Kongresses, das Dogma von der Unteilbarkeit des Friedens unter die Lupe zu nehmen. Nach der Atombombe lasse sich nicht mehr leugnen, daß auch der Frieden zweigeteilt sei. Von einem globalen Tod geängstigt, müsse es der Menschheit unbedingt gelingen, dieses Universale Ende durch einen „Atom- Frieden“ in Schach zu halten, wohingegen einen Zustand der allgemeinen Gewaltlosigkeit und oder gar Spannungsfreiheit zu erwarten, völlig irreal sei.

Bei einer solchen weltweiten Versammlung wird sichtbar, wo die Grenzen der Modernität und der geistigen Uniformen verlaufen. Was hierorts abgelegtes Inventar der Literaturgeschichte, springt uns anderswo als lebendige Gegenwart an: “Faiz Ahmed Faiz, Pakistan, beeindruckte als Seher und magischer Dichter. Während die Oststaaten zufolge ihrer sogenannten klassenlosen Gesellschaft bereits nach einer organischeren und vielstufigen Palette streben (Radu Bourianu, Rumänien, definierte Frieden als dynamisches Gleichgewicht von Yin und Yang), sind die Deutschsprechenden zumeist auf So- ziozentrierung versessen. O ja: Wie viele Formen kann die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen denn ttiöht MftMm"ėnl’’MeliiWėrts!ū- stem beutete Gretchen den Schlummer ihrer Mutter aus, so daß diese schließlich durch Selbstentfremdung vergiftet starb.

Doch - alles, was dazu mich trieb, Gott, war so gut! ach, war so lieb! beteuert jeglicher Ausbeuter, sobald ihm die Leichen ringsum den Ausweg versperren. Und wir dürften ihm sogar Glauben schenken, daß auch er sich weder am Bombenhagel noch am Strahlungskarzinom deklariert. Diese Übel ergeben sich ja bloß als unvermeidlicher Abfall, als unmoralische Innenweltsverschmutzung seiner wohlmeinenden Güterproduktion, die uns Bequemlichkeit, Lust und Genuß in Unbeschwertheit verschaffen soll… Leider strotzt manchmal auch das Gerede über den Frieden von sündhafter Gedankenlosigkeit.

Erst auf der Rückreise kam ich dazu, in dem Herderbändchen Nr. 507 über den Frieden nachzulesen: „Und das ist ja der Inhalt der uns von dieser Stunde auferlegten Einsicht, daß geschehen muß, was noch nie geschehen ist, wenn die Welt, die wir vor uns sehen, die wir leben, der wir dienen möchten, gerettet werden soll.“ Diesen Satz von Reinhold Schneider könnte auch der gute Geist von Helsinki gesprochen haben. Was aber meint Hagia Sophia dazu? In meinem Handorakel finde ich den Satz: „Du sollst nicht lügen.“ Würde dieses Gebot gehalten, so wäre der Frieden nicht nur bewirkt, sondern für alle Zukunft gesichert, denn das Friedenswerk wäre dann auf die Menschheitsleistung gegründet, an der mitzuarbeiten wir alle und in jeder Minute unseres Lebens aufgferufen sind. Immanuel Kant und Sofia haben mir dazu verholfen, auf Sophia zu hören.

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