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Wie in jenen Tagen

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Man liest — und bekommt eine Gänsehaut: Das Schwurgericht Ansbach hat nach fast zweiwöchiger Verhandlung sämtliche Angeklagten freigesprochen, die wegen eines Standgerichtsprozesses im April 1945 vor Gericht standen. Die Anklage hatte dahin gelautet, daß der ehemalige Generalleutnant der Waffen-SS Simon, ein ehemaliger SS-Sturmbannführer, ein ehemaliger Major des Heeres und ein früherer Hauptmann der Polizei ungerechtfertigte Todesurteile verhängten. Der Staatsanwalt hatte für Simon sechs Jahre Zuchthaus und für die ande-viereinhalb und zwei Jahren beantragt. Die jetzt Freigesprochenen hatten im April 1945, als die amerikanischen Truppen bis auf wenige Kilometer an das mittelfränkische Dorf Brettheim im Kreis Crailsheim herangerückt waren, fünf Todesurteile gefällt, von denen vier vollstreckt wurden.

In der Urteilsbegründung wies das Ansbacher Gericht jetzt darauf hin, daß Simon kein Vorwurf gemacht werden könne, wenn er seine Ueberzeugung, weiterzukämpfen, damit begründete, daß es für die Waffenstillstandsverhandlungen besser gewesen wäre, noch deutsche Gebietsteile in der Hand zu halten. Mit dem Ziel, alle Auflösungserscheinungen zu bekämpfen, seien damals Befehle gegeben worden, die jeden berechtigten, sich zum militärischen Vorgesetzten zu machen.' Zum Fall des hingerichteten fußkranken Volkssturmmannes Rößler erklärte das Urteil, Rößler habe sich wegen Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feinde materiellrechtlich schuldig gemacht. Der Truppensanitäter habe Rößler der Volkssturmeinheit als diensttauglich „übergeben“. Trotzdem habe sich Rößler mit der „ungezogenen“ Antwort Götz von Berli-chingens unerlaubt von seinem Truppenteil entfernt.

Die Entwaffnung von Hitlerjungen durch den hingerichteten Bauern Hanselmann erfüllte nach Ansicht des Gerichts materiellrechtlich den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung und der Wehrmittelbeschädigung. Hiernach habe sich schuldig gemacht, „wer“ den Willen des deutschen Volkes zur Wehrkraftselbstbehauptung zu zersetzen versuchte und die Schlagkraft der Armee bedroht hat“. Dabei spiele die Absicht Hanselmanns, sein Dorf vor den Zerstörungen zu schützen, keine Rolle. Die Aussage der Angeklagten, daß sie es „nicht für erforderlich gehalten und nicht daran gedacht hätten“, Hanselmann einen Verteidiger zu stellen, könne nicht widerlegt werden.

Den vom Standgericht verurteilten und darnach hingerichteten Lehrer Wolfmeyer und den Bürgermeister Gackstatter aus Brettheim bezeichnete das Schwurgericht als ehrenwerte Charaktere, bei denen objektiv der Tatbestand

der Wehrkraftzersetzung nicht vorgelegen habe. Den am Standgericht beteiligten Angeklagten könne jedoch nicht widerlegt werden, daß sie den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung irrtümlich als gegeben angesehen und geglaubt hätten, daß keine andere Wahl als die Todesstrafe blieb. Das Schwurgericht erklärte, daß das Verfahren weder die Unschuld der Angeklagten ergeben habe noch habe beweisen können, daß gegen die Angeklagten ein begründeter Verdacht vorliegt.

Das Urteil des Ansbacher Gerichts erweckt den Eindruck — so kommentiert die „Badische Zeitung“ —, als ob es nicht 1955, sondern 1945 gefällt worden wäre. Es erscheine geradezu als eine Herausforderung in der Art, wie es sich die Denkweise der nationalsozialistischen Justiz auf weite Strecken zu eigen machte. Ein solches Urteil könne unmöglich bestehen bleiben, wenn das Vertrauen zur Justiz nicht schwer erschüttert werden soll. Der Staatsanwalt hat bereits angekündigt, daß er dagegen Revision einlegen werde. Auch der bayrische Ministerpräsident Hoegner hat das Urteil mit Recht als „unglaublich“ bezeichnet, weil es einer gefährlichen Entwicklung der Rechtsprechung dienen könne.

Verantwortungsbewußte Kreise in Deutschland hoffen nicht so sehr auf neue und scharfe Verurteilungen, sondern auf eine Zurechtweisung des Ansbacher Gerichtes. Uns interessieren diese Vorgänge vor allem deshalb, weil sich auf diesem Gebiet in letzter Zeit auch in Oesterreich Dinge ereignet haben, die bedenklich stimmen können.

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