Zwischen Normalität und TERRORANGST

19451960198020002020

Nach dem Lockdown vom November ist das öffentliche Leben in Brüssel längst wieder in Gang gekommen. Doch Spuren des Ausnahmezustands finden sich allenthalben.

19451960198020002020

Nach dem Lockdown vom November ist das öffentliche Leben in Brüssel längst wieder in Gang gekommen. Doch Spuren des Ausnahmezustands finden sich allenthalben.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Normalität hat viele Facetten. Die alte, das sind die Touristen auf dem Weihnachtsmarkt und Waffelgeruch über Pflastersteinen. Ein Regionalzug, der den Bahnhof Schuman nicht anfährt, weil dort kurz vor den Feiertagen noch ein EU-Gipfel stattfindet. Die Gemüseläden von Molenbeek. Die etwas neuere, aber inzwischen gewohnte: die bewaffneten Polizisten in der Halle von Bruxelles Central. Die neueste: der Schatten des Terrors, der ab und an auftaucht. So wie das blasse Gesicht von Salah Abdeslam, des noch immer flüchtigen verhinderten Selbstmordattentäters auf der Titelseite der Zeitung.

Nur wenig, sagt Innenminister Jan Jambon dieser Tage im TV, hätte gefehlt, um Abdeslam zu verhaften. Eine Viertelstunde später hätte die Datenbank einen Treffer geliefert, als die Beamten an der französisch-belgischen Grenze am Morgen nach den Pariser Anschlägen seinen Ausweis kontrollierten. So aber ließen sie ihn passieren. Eine bizarre Vorstellung. Pech, meint Jambon. Die neueste Geschichte ist ähnlichen Kalibers: Ein paar Tage später soll Abdeslam kurz vor einer Razzia aus einem Haus in Molenbeek entkommen sein -versteckt in einem Schrank in einem Umzugwagen.

Sehr konkrete Hinweise

Es ist ein seltsames Verhältnis zwischen dem Leben in dieser Stadt, das sich nun wieder eingerollt hat, und den Details, die langsam und spärlich an die Öffentlichkeit dringen. "Sehr konkrete Hinweise" über einen Anschlag soll es gegeben haben, der vor Mitternacht an jenem Sonntagabend in Brüssel stattfinden sollte. Auch das ist eine Interview-Aussage des Innenministers. Jedes Stückchen Information könnte die Kluft zwischen dem Zustand des Lockdown und dem wiedergewonnenen Alltag ein bisschen füllen, und bleibt doch zu vage, um Spuren zu hinterlassen. Wo, fragt man sich auf dem Weg durch die Stadt, hätten sie zugeschlagen? Hier vielleicht? Man weiß es doch nicht.

Ein Gradmesser für die Stimmung in dem Land, dem die Reputation als europäischer failed state und der verächtliche Spitzname Belgistan noch lange nachhängen wird, ist vielleicht dies: Selbst das ausgesprochen heiße Eisen der Strukturen Brüssels (siehe Interview rechts), im November weltweit in den Schlagzeilen, hat sich inzwischen abgekühlt. Erst forderten flämische Politiker Strukturänderungen, dann lehnten frankofone sie ab, inzwischen ist es still geworden, und das Thema könnte dort landen, wo die richtig harten Nüsse der komplexen belgischen Konstellation meistens enden: auf der längsten aller Bänke. In Gang gekommen ist dafür eine neue Debatte über Ethnic Profiling. Mitte Dezember wurde der Schauspieler Zouzou Ben Chikha in Gent auf raubeinige Weise öffentlich einer Personenkontrolle unterzogen, die er als "Erniedrigung" beschreibt.

Chikha, an der belgischen Küste geboren, spielt in einer Serie einen perfekt integrierten Migranten. Die Kontrolle seines Rucksacks ergab zwei Kilo Rindfleisch zum Schmoren und zwei braune Leffe-Biere. Ein landestypischeres Abendessen kann es kaum geben. "Wie viele Generationen musst du schon in Belgien leben, um kein Ausländer mehr genannt zu werden? Ich bin kein Ausländer, ich bin zu 100 Prozent Belgier." Chikha sagt, dies sei seine dritte Erfahrung dieser Art - 2015, wohlgemerkt.

Die renommierte Tageszeitung De Standaard bilanziert kurz vor Weihnachten, nach Anschlägen und Terrordrohung seien die Nerven angespannt bei der Polizei. Etwa zur gleichen Zeit gibt die Kommune Molenbeek bekannt, künftig mit einem Aktionsprogramm gegen Radikalisierung vorzugehen, Prävention und Repression kombinierend. Jede Vereinigung vor Ort soll durchleuchtet werden, Hassprediger und radikale Botschaften auf sozialen Medien bekämpft, man will besseren Kontakt mit Jugendorganisationen und Syrienrückkehrer neben der gerichtlichen Verfolgung psychosozial begleiten. Knapp zwei Millionen Euro investiert die Gemeinde darin.

Ein eigenartiger Raum ist Brüssel in diesen Tagen. Mitte Dezember erst machte der Tourismusdirektor bekannt, dass Flugtickets und Hotelübernachtungen fast wieder auf dem Stand des Vorjahrs sind. Für die nahe Zukunft sind internationale Werbekampagnen geplant. Wer Touristen anlocken will, kommt an einem Argument nicht vorbei: "Brüssel ist genauso sicher wie jede andere europäische Hauptstadt", betonte die Tourismusagentur visit.brussels.

Das Jahr des Radikalen

Doch die Angst, die man den Touristen ausreden will, ist in den einheimischen Köpfen ebenso vorhanden. Drei Zeilen genau braucht die Zeitschrift Knack im Editorial ihres Jahresrückblicks, dann tauchen auch schon die Schlüsselwörter auf. "Syriengänger" und "Jihadterror". Und natürlich ist auch sein Gesicht auf dem Titel: Montasser AlDe'emeh, der Jihad-Sachverständige und Geläuterte aus eigener Erfahrung, der mit der fortschreitenden und immer offensichtlicheren Verwicklung Belgiens in die syrische Malaise immer präsenter wurde in den Medien des Landes. Interviewt hat man ihn zum "Jahr der Radikalisierung".

AlDe'emeh ist schwierig anzutreffen in diesen Wochen, denn sein Pensum ist kontinuierlich am Limit. Bis tief in die Nacht ist er auf seiner ehrenamtlichen Mission unterwegs, jungen Muslimen ihre syrischen Phantasien auszureden.

Ein Kurzbesuch in seiner Wohnung in Molenbeek, dort, wo der Sohn palästinensischer Migranten unter anderem aufwuchs: Just hat er den ganzen Tag mit zwei potentiellen "Syriengängern" verbracht. "Ein Mädchen, ein Junge." Nein, vor der Abreise stehen sie noch nicht. "Aber sie hören den Lockruf." Die eine Person, sagt AlDe'emeh, kommt aus Antwerpen, die andere aus Brüssel. Man horcht unweigerlich auf. Beinahe hätte man vergessen können in den letzten Wochen, dass andere belgische Städte auch im Kalifat vertreten sind.

Fluchtwege in den Terror

Apropos Lockruf: Den hörte der junge Politologe einst selbst, als er sich in adoleszenten Krisen, befeuert von der Vertreibungsgeschichte seiner Eltern und der zunehmenden Polarisierung nach dem 11. September, einen Fluchtweg als Jihadist zimmerte.

Doch der Gewaltkreislauf im Nahen Osten und einschlägige Videos ließen ihn zweifeln. Er las mehr und mehr, studierte Arabistik und Judaistik, und reiste schließlich nach Syrien, um für seine Doktorarbeit die Motive belgischer foreign fighters zu erforschen. Neulich wurde in Belgien sein Telefonat mit einem Muslim aus Kortrijk, der nach Syrien gegangen war, publiziert. AlDe'emeh versuchte, ihn von seinen Selbstmordplänen abzuhalten. Vergeblich.

Der Alltag, zu dem Brüssel zurückgefunden hat, lässt Montasser AlDe'emeh mit den Schultern zucken. "Jeder geht wieder seinen Weg. Ich denke nicht, dass Menschen nun wirklich ihr Leben umkrempeln." Dabei gibt seine Analyse alles andere als Hoffnung: "Ich sitze wirklich zwischen diesen Jugendlichen. Es sieht nicht gut aus. Der Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen nimmt zu. Überall dieses 'Siehst du'-Denken: 'Siehst du, es ist der Islam!' - 'Siehst du, sie scheren uns alle über einen Kamm!' - 'Siehst du, es liegt an den Marokkanern.' - 'Siehst du, die Flamen sind engstirnig.'"

Im Dunkeln leuchtet Brüssel, wie sich das gehört für diese Jahreszeit. Wer dafür empfänglich ist, könnte von der weihnachtlichen Dekoration seine Flashbacks eines vom Terror geprägten Jahres verscheuchen lassen. Ganz kurz nur, bis zum Wochenende. Dann gibt es wieder Razzien und Festnahmen in Brüssel, auf der Suche nach einem vermeintlichen Drahtzieher der Anschläge von Paris. Gefunden wird er nicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung