Anonym geborene Menschen: Generation inkognito

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Menschen ohne Herkunft: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, anonym Geborenen das Recht auf Auskunft über ihre leiblichen Eltern zu verweigern, ist umstritten.

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Menschen ohne Herkunft: Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, anonym Geborenen das Recht auf Auskunft über ihre leiblichen Eltern zu verweigern, ist umstritten.

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Geboren am 23. März 1965 in Paris, vier Jahre später adoptiert, drei unbekannte Brüder: Mehr als diese Bruchstücke ihrer Identität wird Pascale Odièvre nie besitzen. Vergangene Woche wurde ihr letzter Funken Hoffnung, irgendwann ihre leibliche Mutter fragen zu können, "warum sie mich weggegeben hat", vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ausgelöscht. Die Richter hatten ihre Klage abgewiesen, Einsicht in ihre Geburtsakten zu bekommen. Begründung: Angesichts der "komplexen und heiklen" Fragen, die eine anonyme Geburt aufwerfe, habe Frankreich nicht gegen Artikel 7 der UN-Kinderrechts-Konvention verstoßen ("Das Kind hat soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen"). Zudem könnte die Namensnennung der Mutter "erhebliche Folgen" haben - nicht nur für die betroffenen Frauen, sondern auch für die Adoptiveltern und übrigen Mitglieder der Familie.

"Erhebliche Folgen" verspürt Pascale Odièvre freilich schon jetzt: Seit ihrem 20. Lebensjahr befindet sich die Französin in psychologischer Behandlung - nach eigenen Angaben eine Folge ihrer aussichtslosen Suche nach der eigenen Identität. Wie sie leiden viele der rund 400.000 "X-Geborenen" - seit 1941 ist es in Frankreich erlaubt, in der Geburtsurkunde an Stelle des Namens der Mutter ein "X" einzutragen - an ihren gekappten Wurzeln. Regelmäßig kam es zu Demonstrationen, bis schließlich 2002 die Gründung einer Zentralstelle durchgesetzt werden konnte, die alle verfügbaren Angaben sammelt. Über diese Stelle können Betroffene versuchen, Kontakt zu ihrer leiblichen Familie herzustellen. Freilich nur, wenn die Mütter dies wollen.

Österreichs "Findelkinder"

Pascale Odièvres Mutter wollte nicht. Als Mensch ohne Herkunft teilt die Französin nun jenes Schicksal, das in Österreich allen 60 anonym geborenen Kindern beschieden ist. War es bis 2001 notwendig, beim zuständigen Jugendwohlfahrtsträger den Namen der Mutter zu deponieren, so gibt seither ein Erlass des Justizministeriums den Bundesländern die Möglichkeit, für Frauen in Notsituationen Babyklappen zu installieren und anonyme Geburten anzubieten - ohne irgendwelche Daten zu registrieren. Der Grundgedanke: Besser ein anonymes "Findelkind" als ein totes Baby im Müll.

Doch handelt es sich hier wirklich um zwei Alternativen? Vermag die Möglichkeit der anonymen Geburt tatsächlich, verzweifelte Mütter von der Weglegung oder gar Tötung ihres Neugeborenen abzuhalten? Unter Experten mehren sich die Zweifel. "Frauen, die ihr Kind umbringen, sind psychotisch", weiß Martin Langer, Gynäkologe und Psychotherapeut an der Universitäts-Frauenklinik im AKH Wien. In dieser Situation seien sie auch zu einer anonymen Geburt im Krankenhaus nicht fähig. Bestätigt fühlt sich Langer durch die jüngsten Kindesmorde in Niederösterreich - mitten zwischen den Spitälern Krems, Hollabrunn und Korneuburg, in denen anonyme Geburten möglich sind.

Vor allem an der Wiener Landeslösung entzündet sich die Kritik: Während das Justizministerium eine "Überprüfung der Konfliktsituation" der Frau verlangt, ist nach Ansicht der Wiener Gesundheitsstadträtin Elisabeth Pittermann der Wunsch der Frau ausreichend - "aus welchen Gründen immer". Das Straßburger Urteil gebe ihr Recht.

Ungelöste Konflikte

Macht man sich jedoch die quälende Suche anonym Geborener nach ihrer Herkunft bewusst, so muss diese laxe Regelung verwundern. Zudem besteht die Gefahr, den eigentlichen Konflikt, in dem sich die Mutter befindet, außer Acht zu lassen. Wurde die Frau Opfer von Gewalt? Befindet sie sich in einer ausweglosen Situation? Oder wurde sie unter Druck gesetzt? Ein verpflichtendes Gespräch würde diese blinden Flecken schließen.

Zu forden ist also eine institutionalisierte Prüfung der Gründe für eine anonyme Geburt. Sie allein ist der kleinste gemeinsame Nenner, um Frauen in Not weiter eine Anlaufstelle bieten zu können - und so viele Kinder wie möglich vor einem lebenslangen Trauma zu bewahren.

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