OGH-Urteil: Welches Signal geben wir unseren Kindern?

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Der jüngste OGH-Entscheid zur planwidrigen Geburt eines Kindes sorgt nicht nur für mehr Klarheit im Rechtssystem, sondern auch für Unbehagen. Eine Replik auf Barbara Steininger.

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Der jüngste OGH-Entscheid zur planwidrigen Geburt eines Kindes sorgt nicht nur für mehr Klarheit im Rechtssystem, sondern auch für Unbehagen. Eine Replik auf Barbara Steininger.

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Der Gesetzgeber drückt sich im Fall von Schadenersatzklagen wegen unerwünschter Geburten von Kindern mit Behinderungen vor richtungsgebenden Beschlüssen. Das Höchstgericht fällt Urteile dazu, die innerhalb des Rechts- und Denksystems schlüssig erscheinen mögen. Die problematischen Folgen aber für die Betreuung schwangerer Frauen, für Menschen mit Behinderungen, für Pränatalmediziner und -medizinerinnen – sowie unsere Sicht auf den Menschen – bleiben außen vor.

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Der aktuelle Entscheid vom 21. November 2023 folgte in einer Systemkette, die 2006 begann und auch anders hätte ausfallen können: Der OGH verurteilte erstmals einen Arzt zur Leistung des gesamten Unterhaltes für ein Kind, das mit Downsyndrom geboren wurde (5 Ob 165/05 h). Dies sorgte für heftige Debatten und große Betroffenheit. Der Arzt hatte aus Sicht der OGH-Richter die Frau zu wenig deutlich darauf hingewiesen, dass sie eine auf Pränatalmedizin spezialisierte Einrichtung aufsuchen sollte. Der verurteilte Arzt lebt nicht mehr. Wer hat jemals überlegt oder nachgefragt, wie es ihm weiter ergangen ist?

Abgeschobene Verantwortung

Im Empfinden vieler Menschen bedeutete das Urteil ein Werturteil über das Leben eines Kindes mit Behinderung, wiewohl die Höchstrichter diesen Gedanken stets zurückwiesen. Dennoch bleibt, dass die gesamte Existenz und nicht nur der behinderungsbedingte Mehraufwand als „Schadensfall“ behandelt wurde und wird. Die Mutter des Kindes konnte durch die Zahlungen des Arztes zwar ihr Kind versorgen, aber um welchen Preis? Und wie fühlen sich Eltern, die ihr behindertes Kind – wissend oder unwissend – klaglos angenommen haben?

Damals fragten sich viele Menschen und Behindertenverbände, warum es ein solches Urteil „braucht“, damit behinderte Kinder und ihre Eltern angemessen unterstützt werden. Das OGH-Erkenntnis entband den Staat davon, ein bestmögliches Umfeld zu schaffen, in dem behinderte Kinder und ihre Eltern gut leben können. Die Verantwortung für das Leben eines Kindes und für dessen unterbliebene Abtreibung wurde auf eine Einzelperson abgeschoben, auf den Arzt, der die Behinderung zudem nicht verursacht hatte.

Die Pränataldiagnostik veränderte sich ebenfalls: Eingeführt wurde sie unter anderem, um Kindern vor der Geburt Therapien zu ermöglichen oder ein entsprechendes „Geburtsmanagement“ zu organisieren. Kritikerinnen und Kritiker erkannten aber von Anfang an auch die eugenische Seite der Untersuchungen. Das jüngste OGH-Urteil benennt diesen Zweck der Pränataldiagnostik eindeutig: Sie hat den Zweck, einer Frau rechtzeitig jene Informationen zu liefern, die ihr im Fall drohender schwerwiegender Missbildungen des Fötus die sachgerechte Entscheidung über einen Abbruch der Schwangerschaft ermöglichen.

Die Begleitung schwangerer Frauen wird mittlerweile von der Angst geleitet, etwas zu übersehen oder nicht eindringlich genug auf spezialisierte Einrichtungen hinzuweisen. Das Erleben von Schwangerschaft hat sich verändert. Im Fokus stehen die Überwachung des Kindes und seine normgerechte Entwicklung. Die Verantwortung für die Geburt eines gesunden Kindes wird weiter privatisiert.

„Aktion Leben“ startete 2008 vor dem Hintergrund dieses Urteils die parlamentarische Bürgerinitiative „Mit Kindern in die Zukunft“ und forderte darin, dass kein Schadenersatz zustehen soll, wenn ein Kind behindert geboren wird und die Behinderung nicht durch Fehlverhalten eines Dritten verursacht wurde. Vielmehr soll der Gesetzgeber für einen angemessenen Ausgleich aller Nachteile sorgen, die sich aus einer Behinderung für die behinderten Menschen selbst, aber auch deren sorgepflichtige Angehörigen ergeben. Wir haben eine Gesetzesänderung dazu im ABGB vorgeschlagen.

Dass der Gesetzgeber gefordert ist, wenn er keine weiteren derartigen Urteile möchte, sagt auch der OGH. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Schadenersatzpraxis für die unerwünschte Geburt behinderter Kinder als Diskriminierung betrachtet werden kann.

Das Schweigen des Gesetzgebers führte allerdings dazu, dass der OGH nun auch Schadenersatz zusprach für die nicht verhinderte Geburt eines gesunden Kindes. Franz Joseph Huainigg, Autor, ehemaliger Nationalratsabgeordneter und Behindertensprecher der ÖVP, schrieb dazu in der Kleinen Zeitung: „Die Gleichstellung von Wrongful Birth mit Wrongful Conception hat zur unglaublichen Folge, dass es erstmals auch ein Recht auf kein Kind gibt."

Das Leben als „Fehler“?

Die OGH-Urteile machen eine Haltung gegenüber Kindern und dem Leben auf, die wir hinterfragen sollten. Solche Urteile machen es zunehmend schwerer, ein ungeplantes Kind oder ein Kind, bei dem eine Auffälligkeit festgestellt wurde, anzunehmen. Den Urteilen liegt die Sicht zugrunde, dass das Leben eines Menschen ein „Fehler“ sein könne. Sie lasten nicht nur Medizinern und Medizinerinnen den Mehraufwand für behinderte Kinder an, sondern legen Eltern nahe, bei unerwünschten Geburten nach misslungenen Eingriffen zur Verhütung zu klagen. Welches Signal geben wir damit unseren Kindern? Eure Existenz ist nur dann gut, wenn von Anfang an alles nach Plan verläuft? Mit einer solchen Botschaft verlieren wir viel an Menschlichkeit.

Die Autorin ist Generalsekretärin von „Aktion Leben Österreich“.

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