"Die Liebe, oder was das war"

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Von Generation zu Generation ist die Jugend überzeugt, sie erfände Zweierbeziehungen gerade ganz neu, sie erlebe nie Dagewesenes, sie mache, was menschliches Zusammenleben betrifft, alles ungleich besser als die Altvordern. Und nur ihre Definition von Ehe und Treue habe Gültigkeit. Aber sind Ehe und Treue überhaupt Werte an sich? Sind sie es jemals in der Geschichte der Menschheit gewesen? Es gibt keine menschliche Gesellschaft, die die Treue des Mannes besonders hoch bewertet, die seine Untreue mehr als nur kursorisch bestraft. Hingegen gab es bis vor kurzem nur wenige Gesellschaften, die die Untreue der Frau tolerierten: Sie wurde mit dem Tod bestraft, oder wenigstens mit demTotalentzug ihrer Rechte als Frau und Mutter, er hingegen mit einem unterdrückten Lächeln akzeptiert.

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Welt gedreht: Weg von der unbeschränkten Herrschaft des Mannes, hin zur Frau, wenn auch natürlich nicht zur unbeschränkten Herrschaft der Frau. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Position der Frau hat sich geändert, sie und ihre Kinder sind nicht mehr abhängig von einem Ernährer. Das und nur das ist es, was Ehe und Treue obsolet macht. Kein Mann braucht heute zu befürchten, dass er für ein Kind zahlen muss, das er nicht gezeugt hat. Und kein Mann fühlt sich an eine Frau gebunden, weil sie ein Kind von ihm bekommt.

Die Frau andererseits, die ihr Kind ohne Vater großzieht, muss sich vielleicht einschränken, aber sie steht nicht vor dem Hungertod und nicht vor gesellschaftlicher Ächtung. Ehe und Treue liegen nicht auf derselben Ebene: Die Ehe ist eine gesamtgesellschaftliche Organisationsform zur Erhaltung dieser Gesellschaft.

Noch mehr: Die Ehe ist auch eine Vorkehrung der Natur für die Arterhaltung, und als Arbeitsgemeinschaft zur Aufzucht des Nachwuchses bleibt sie (oder auch eine nicht-sanktionierte eheähnliche Partnerschaft) heute - noch? - gültig. Und wie in anderen (nichtmenschlichen) permissiven Gesellschaften ist sie, sobald die Kinder Halbwüchsige geworden sind, sinnentleert. Plötzlich stehen zwei Fremde voreinander, deren einziges Verbindungsglied sich mit irgendeiner Jugendclique herumtreibt, und wissen nicht, was sie miteinander anfangen sollen.

Die Treue ist keine gesellschaftliche Verpflichtung, sie bindet zwei Individuen aneinander, oft sogar nur eines an das andere. Und irgendwann kommt für alle der Tag, an dem sie sich fragen, ob das Gras hinter dem Zaun nicht grüner ist. Der eiserne Ring der Treue schützt bloß das Ego eines Partners, der die Konkurrenz scheut. Aber lassen sich Ehe und Treue wirklich auf die rein materielle Angst vor dem Kuckucksei reduzieren? Hat wirklich jeder Mann, wie im Herrenwitz, nichts anderes im Sinn als Herrenabende in Gesellschaft loser Frauen? Führt wirklich jede verheiratete Frau ein Sklavendasein, in dem sie abends im Schlafzimmer die Augen schließt und sich Brad Pitt oder Michael Douglas vorstellt?

Es gibt da noch eine andere Dimension - weder gesellschaftliche noch individuelle Verpflichtung, sondern einen Sturm der Seele,der jede Überlegung verweht:"Die Liebe, oder was das war"(Rilke). Sie ist vielleicht der Wert an sich. Denn Romeo hätte wohl niemals seine Julia betrogen. Nur: Hat er sich denn nicht, ehe ihn Julias erster Blick traf, nachRosaline verzehrt?

Die Autorin, geschieden und Mutter zweier erwachsener Söhne, ist Redakteurin bei der Tageszeitung "Die Presse".

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