Hirn statt Emotionen

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Im Fahrtechnikzentrum Teesdorf üben Lenker das Verhalten in Grenzsituationen. Ein Lokalaugenschein.

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Im Fahrtechnikzentrum Teesdorf üben Lenker das Verhalten in Grenzsituationen. Ein Lokalaugenschein.

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Im Seminarraum herrscht ein Hauch von Wagemut. Zehn Neugierige haben sich versammelt, um einen Tag lang kontrolliert an ihre Grenzen zu gehen. Was sie sich davon erwarten? "Mehr Sicherheit in Extremsituationen", bringt es einer der Teilnehmer im ÖAMTC Fahrtechnikzentrum Teesdorf im Süden Wiens auf den Punkt. Die anfängliche Freude über den hohen Frauenanteil in der Gruppe schwindet derweil rasch: Zwei der vier anwesenden Damen sind nur als Beifahrerinnen mit dabei - aus Interesse und zur Sicherheit. Während draußen am weiten Testgelände der Regen auf die Rutschbeläge fällt, entführt "Instruktor" Thomas Geldner, hauptberuflich Busunternehmer, seine Gruppe eine Stunde lang in die ferne Fahrschulzeit. Längst verdrängte Formeln über Reaktions- und Bremsweg rutschen ins Gedächtnis. Die Verwunderung ist die gleiche wie ehedem: 30 Meter Reaktionsweg bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h sowie ein Bremsweg von ganzen 100 Metern lassen staunen. Ein bis zwei km/h könnten entscheidend sein, ob eine Kurve noch zu "kratzen" ist oder nicht.

Der Instruktor wartet mit weiteren Schmankerln über Reifenalter und Profiltiefe auf, hämmert den ABS-losen Teilnehmern das Motto "bremsen oder lenken" ein und regt Lenker mit Anti-Blockier-System dazu an, im Falle des Falles "voll auf der Bremse" zu bleiben - auch wenn es dabei im Fahrzeuginneren höchst eigenartig rumpelt. Eine kurze Blockierphase der Räder sei eben nötig, damit das elektronische Steuergerät überhaupt zum Einsatz kommt. Ob ABS oder nicht: Ausgekuppelt wird bei einer Vollbremsung in jedem Fall, legt schließlich Alexander Wurz der vorfreudigen Gruppe per Video ans Herz.

Grenzen erspüren Österreichs Formel-1-Piloten liegt nicht nur der Motorsport, sondern auch die Sicherheit im Blut: Vater Franz Wurz, mehrfacher Staatsmeister im Autocross und Rallyecross, hat sich als Geschäftsführer der ÖAMTC-Tochtergesellschaft "Test & Training" die Sicherheit im Straßenverkehr zum Ziel gesetzt: "Es gibt zwei Methoden, bewussteres Fahren zu lernen", weiß Wurz. "Die schmerzvolle durch einen Unfall - wobei man oft nicht weiß, woran es eigentlich gelegen hat. Oder unsere Methode mit dem Ziel, die schmalen Grenzen selbst zu erspüren." Dass gerade bei jungen (männlichen) Führerscheinbesitzern diese Grenzen zwischen Sicherheit und Risiko allzu fließend sind, zeigt auch ein Blick in die Verkehrsunfallstatistik: Mit bis zu 45 Prozent sind Verkehrsunfälle bei jungen Menschen Todesursache Nummer eins. Mangelndes Können und erhöhte Risikobereitschaft werden als Hauptunfallgründe angeführt. Ein Gefahrenpotenzial, auf das die derzeitige Fahr-Ausbildung keine geeigneten Antworten findet, glaubt Wurz: "Das Ziel der Jugendlichen ist es, den Führerschein zu schaffen. Das richtige Ziel wäre es aber, gewisse Dinge zu können." Die geplante Mehrphasen-Fahrausbildung könnte hier Abhilfe schaffen, ist der Experte überzeugt. So soll die bereits bestehende, zweijährige Probefrist mit 0,1 Promille Alkohollimit für die Verbesserung der Fahrleistung genutzt werden. Innerhalb von zwei bis vier Monaten nach der Führerscheinprüfung ist demnach eine Feedbackfahrt zu absolvieren, bei der festzustellen ist, "ob sich der Lenker keine Blödheiten angewöhnt hat", so Wurz. Eine psychologische Gruppendiskussion unter Gleichgesinnten soll sich selbst Überschätzende auf den Boden und den Reflexionsprozess auf Touren bringen. Drei bis neun Monate nach dem Lizenzerwerb ist ein ganztägiges Fahrsicherheitstraining geplant, das bei den Fahrschulen, ARBÖ oder ÖAMTC absolviert werden kann. Vor Ablauf eines Jahres steht schließlich eine zweite Feedbackfahrt auf dem Programm.

Reif für Feedback ist mittlerweile auch die wagemutige Teesdorfer Gruppe. In einer Autoschlange und unter strömendem Regen rollen die acht PKWs hinter dem Instruktor auf das 300.000 Quadratmeter große Testgelände. Die Gurte sind festgezurrt, die Nackenstützen korrekte zwei Fingerbreit vom Kopf und in richtiger Höhe eingestellt, die Hände schließlich in optimaler 3-Uhr-9-Uhr-Stellung am Lenkrad positioniert. Aus den zuvor verteilten Pagern würde man seine Anweisungen erhalten, lautet Thomas Geldners letztes Wort.

Es wird Zeit für die Abfahrt. Nach der Aufwärmübung "Slalomfahren zwischen Plastikstangen" beginnt auf der langen Rutschpiste endlich der Ernst des Tages: "Auskuppeln und Vollbremsung bei 30 km/h und dann 60 km/h", dröhnt die Stimme des Instruktors. Einer der beiden Damen ist die undankbare Rolle der Frontfrau zugefallen. Nur mit Mühe schlittert sie nicht über den Rutschbelag hinaus. "Doppelte Geschwindigkeit, vierfacher Bremsweg" lautet nach Übungsende die Erkenntnis. Ihr ABS-loser wagen macht ihr auch bei der folgenden Kurvenfahrt zu schaffen: "Stotterbremse" und viel Gefühl sind angesagt, um nicht vollends abzugleiten.

Wie in dieser Übung haben ABS-Besitzer (ohne eigenes Zutun) auch beim Kuppenfahren, beim Ausweichen von Wasserhindernissen und bei der Vollbremsung auf wechselhaftem Untergrund die Nase vorn. Die spektakuläre Schleuderscheibe trennt endgültig die (technologische) Spreu vom Weizen: Wer hier über ESP (Elektronisches Stabilitäts-Programm) verfügt, hat leicht lachen.

Auch für Probeführerscheinbesitzer sind die Zeiten günstig: Sie haben die Gelegenheit, im Rahmen der Aktion "Road Expert" zum Preis von 500 Schilling (für Grundwehrdiener 300 Schilling), einen Tag lang an einem Fahrsicherheitstraining teilzunehmen. Die Erwartungen an das neue Mehrphasen-Modell sind groß - und werden von positiven Erfahrungsberichten aus Finnland bestätigt. Dort reduzierte sich die Anzahl der Unfälle bei männlichen Fahranfängern über 21 Jahren immerhin um die Hälfte. Bei den Frauen blieben die Zahlen jedoch stabil, weiß Peter Supp von "Test & Training" und ortet einen "genetisch bedingten Unterschied" im Fahrverhalten von Mann und Frau: "Gerade junge Männer zeichnen sich durch Imponiergehabe aus. Durch das Training wird der Respekt vor dem Autofahren gestärkt. Junge Frauen fahren offensichtlich ohnehin kontrolliert."

Mit 1. Jänner nächsten Jahres könnte die mehrphasige Ausbildung bereits gang und gäbe sein, hofft Franz Wurz. Indes hat man sich bei "Test & Training" bereits gerüstet: Insgesamt 250 Millionen Schilling werden im heurigen Jahr in den Aufbau weiterer Fahrsicherheitszentren investiert. Neben den bestehenden Anlagen am steirischen A1-Ring, in Saalfelden und Teesdorf sind auch Zentren in Oberösterreich, Kärnten, Tirol und Vorarlberg geplant. Nahmen im vorigen Jahr 43.000 Interessierte mit ihrem Mofa, Motorrad, PKW, LKW, Bus oder Traktor am Training teil, so plant man eine Ausweitung der Kapazitäten auf über 100.000 Teilnehmer pro Jahr. Schulische Verkehrsprogramme komplettieren die Palette, betont Franz Wurz: "Spielerisch lernen die Kinder das Verhalten im Straßenverkehr oder den Umgang mit dem Gurt. Und dann können sie damit ihre Eltern quälen."

Ein Ende der Schleuder-Qualen ist indes für die acht Wagemutigen in Sicht. Nach einem Tag voll simulierter Lebensgefahren ist die Stimmung freilich gespalten. Hier wurde das Vertrauen in den fahrbaren Untersatz bestärkt - dort erschüttert. Bremstechniken verankern sich im Kopf. Einige beschließen, zum Aquaplaning-Training wiederzukommen. Doch allen bleibt wohl des Satz des Instruktors im Gedächtnis: "Außerhalb des Geländes sind die Hindernisse echt."

Infos:(02253) 81 700 und www.oeamtc.at Für diesen Beitrag stellt der ÖAMTC einen Druckkostenbeitrag zur Verfügung.

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