"Am liebsten reisen wir zum eigenen Ich"

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Athene, das Mädchen aus der Zukunft, reist gerne in der Cyberwelt. Dort gibt es Spaß und Fantasie, Erlebnis und Abenteuer. Hautnah. Ich-Entdeckung inbegriffen.

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Athene, das Mädchen aus der Zukunft, reist gerne in der Cyberwelt. Dort gibt es Spaß und Fantasie, Erlebnis und Abenteuer. Hautnah. Ich-Entdeckung inbegriffen.

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Mozarts Musik ist das erste, was ich wahrnehme. Noch kann ich mich nicht entschließen, den Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein zu verlassen. Dann die sanfte Stimme des Computers: "Guten Morgen, es ist acht Uhr, Dienstag, der 22. April 2025". Vier arbeitslose Tage liegen vor mir. Ich habe einen Zweitjob, drei Tage die Woche arbeits ich als als Privatsphärenlektorin. Dabei durchforste ich alle speziellen Nachrichtendienste im Internet und wähle jene Meldungen aus, die für meinen Arbeitgeber gerade von Bedeutung sind.

Noch immer liege ich im Bett. Das Frühstück ist für 8.30 programmiert. Ein Segen die moderne Technik! Alles elektronisch gesteuert - vom Zentralcomputer: Alarm- und Klimaanlage, Lichtschalter, Heizung, Herd, Kaffee- und Waschmaschine und, und, und ...

Darüber hinaus verbindet mich diese intelligente, interaktive Maschine über Kabel mit der ganzen Welt. Sie ist Zeitung, Zeitschrift, Buch, Radio, Kino, TV, Telefon und Fax in einem und sie liefert alles: Bilder, Nachrichten, Texte, Videos, Computerspiele, Klänge und Songs, Datenbanken, Cyberanimationen, materialisiert meine Wünsche, Ideen und Vorstellungen.

Der Kaffee ist fertig. Sein Duft steigt mir in die Nase, aber noch immer kann ich mich nicht entschließen, endlich aufzustehen. Vielleicht helfen mir ein paar Minuten Mentalsport auf die Beine. Ich setze die Kappe meiner Brain-Machine auf. Das mentale Training hält meinen Organismus fast ohne jede Bewegung fit. Nach zehn Minuten bin ich voller Tatendrang und bereit aufzustehen.

Während ich frühstücke, hole ich mir das von meinem News-Provider individuell für mich zusammengestellte News-Bulletin auf den Bildschirm. Bei einer Schlagzeile "New York schlägt Moskau" bleibe ich hängen. Ich klicke auf "hören und sehen". Die Aufzeichnung des Städtekampfes flimmert über den Monitor.

Der Städtekampf New York - Moskau fand vergangenes Wochenende in London statt. Die mit Flugzeugen angereisten Anhänger der einzelnen Städte hatte man vorsorglich in hermetisch abgeriegelte Sektoren der riesigen Arena untergebracht. Allzu oft kommt es bei den gigantischen Kampfspielen zu gewalttätigen Ausschreitungen. Ich kann diesen theatralisch und mythisch inszenierten Kämpfen, die nur den Zweck verfolgen, die Massen aufzuheizen, nichts abgewinnen. Doch die Spiele sind bei den Menschen sehr beliebt und die Psychologen befürworten diese Spektakel als "Mittel zum Aggressionsabbau", Ähnliches gilt für die Cyber-Spielhallen und Laserdome, wo man - fiktional, elektronisch - töten und zerstören darf.

Ich reise gerne, real aber auch fiktiv in der Cyber-Welt. Die Karibik in Cyber-Animation - auch, was für ein Fest für Augen und Sinne. Dabei immer wieder neu - entworfen nach meineneigenen Vorstellungen, grandioser und beeindruckender als jede Wirklichkeit. Wozu dann Geld für eine Reise ausgeben?

Reisen und Urlauben in der Realität boomt trotzdem. Natürlich, das Angebot muß es in sich haben. Nach Natur und Kultur pur, Erlebnis und Abenteuer hautnah, Fun und Fantasie, liegen derzeit Risikourlaube im Trend, mit grantiertem Unfallrisiko sowie Reisen in Krisen- und Kriegsgebiete.

Die aufregenden, pulsierenden Städte sind beliebte Ziele für Kurzurlaube.

Immer öfter dient der Urlaub auch dem Selbst-Design: Ich-Entwurf, Ich-Entdeckung, Ich-Wagnis ...

Ich reise meistens allein. Kein Problem, immer mehr Paare verbringen ihre Freizeit getrennt. Die Tourismusindustrie hat sich darauf eingestellt.

Nach zwei Lebensgemeinschaften lebe ich jetzt ohne Partner. Einsam? Keineswegs. Ich bin Teil eines weltumspannenden Netzwerks von elektronischen Dialogsystemen, Mailboxen, Diskussionsforen, Spielen. In diesen Netzwerk-Pool investiere ich meine Wünsche, Utopien, Ideen und Imaginationen. Das machen viele Menschen so. Daraus entstehen neue Trends und Bewegungen - wie von selbst. Auch der neue Feminismus ist so entstanden.

Unsere These lautet: Nur wenn wir die Unterschiede zwischen Mann und Frau vergrößern, kann es zu einer Koalition kommen. Wenn man die Unterschiede verkleinert, entsteht zuviel Rivalität. Die männliche Kultur ist nicht zu überwinden, weil sie die Schaltzentralen besetzt hat. Jeder Versuch einer Angleichung und Egalisierung der Geschlechter ist daher falsch. Wir propagieren den fundamentalen Aufbau einer weiblichen Eigenwertigkeit, einer weiblichen Eigenkultur und einer Eigenerotik.

Morgen bekomme ich Besuch von Annika, einem Mitglied des weltweiten Feminismusforums.

Mittwoch, 23. April 2025 Ich bin mit dem Auto unterwegs zum Flughafen um meine Freundin abzuholen. Anschließend fahren wir weiter in ein stadtnahes Freizeitparadies. Ein paar Urlaubstage zwischen Wasserfällen und Stromschnellen, Südseepalmen und Bananenstauden haben wir uns verdient, kamen wir bei unserem letzten on line Gespräch überein. Ich bin sicher, das "Tropic", eine Mischung aus Yachthafen, tropischem Garten, Shopping Center und griechischem Dorf, wird Annika gefallen. Schönwetter ist auch garantiert - das künstliche Paradies überspannt eine riesige Glaskuppel.

Mittlerweile habe ich die Autobahnauffahrt erreicht. Ich bezahle mit der Kreditkarte die Straßennutzung und klinke mich in das kollektive Verkehrsleitsystem ein, das mir die stupide Fahrroutine abnimmt. Dann kippe ich meinen Autositz zurück, höre Musik und träume.

Immer mehr Menschen statten ihr Auto wie eine Wohnung aus: mit ergonomisch bequemen Schlafsitzen, Fernseher, Bar, Picknicktisch, Kühlschrank, Relaxman zur Entspannung, Massagemöglichkeit, Duftsystem, Klimaanlage. Ich verstehe das. Doch im Auto wohnen - und das tun viele Menschen -, nein danke Die Menschen der Mobilitätsgesellschaft sind ununterbrochen unterwegs. Von der Wohnung oder dem Auto eilen sie in den Flughafen, von hier in die Lobby einer Hotelkette, von dort auf die Autobahnraststätte, daraufhin in den Hochgeschwindigkeitszug, dann in den Supermarkt. Dazwischen werden multifunktionale Kleinsthäppchen an Ferienarrangements gebucht: ein halber Tag Golf zwischen den Wolkenkratzern einer Großstadt, ein Treffen mit Freunden im schrillsten Restaurant der Stadt, ein Helikopterflug zum Fischen in ruhigen und abgelegenen Gewässern, Sommerschilauf in der künstlichen Schneewelt der Alpen. Irgendwann ist die letzte Station erreicht - die Seniorenresidenz oder die Privatklinik.

25 Kilometer sind es bis zum Flughafen und ich bin bereits eine Stunde unterwegs. Die vielen Autos! Wenigstens gibt es keine Umweltprobleme mehr. Das verdanken wir zwei völlig neuen Energien: der Tachyonen-Energie und dem Jet-Antrieb.

Elektronisch gelenkt rollen die Autos dahin - ohne Unfälle und Staus. Der Flughafen kommt in Sichtnähe. Am nächsten Parkplatz stelle ich mein Auto ab. Für die letzten tausend Meter miete ich eines der smarten, kleinen Ad-hoc-Autos.

In der Ankunftshalle wartet bereits meine Freundin auf mich. Ich erkenne Sie sofort. Sie ist hübscher als auf den Computerbildern und sehr elegant. "Habe ich alles selbst am Computer entworfen", informiert sie mich stolz.

Wir freuen uns auf die vor uns liegenden Ferientage. Was werden wir nicht alles erleben!

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