Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht

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"Tierischer" Ernst ist in Kirche und Gesellschaft stark verbreitet. Humor wird viel zuwenig kultiviert und gefördert.

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"Tierischer" Ernst ist in Kirche und Gesellschaft stark verbreitet. Humor wird viel zuwenig kultiviert und gefördert.

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In meiner psychotherapeutischen Praxis habe ich oft mit Menschen zu tun, die gelernt haben, das Leben und sich selbst tierisch ernst zu nehmen. Dadurch geraten sie in einen sehr leidvollen Zustand der Erstarrung und Ausweglosigkeit.

Vom tierischen Ernst spricht man deshalb, weil Tiere nicht lachen können. Sie sind instinktgebunden und können zu sich selbst nicht auf Distanz gehen. Doch auch wir Menschen neigen sehr dazu, uns selbst und das Leben tierisch ernst zu nehmen. Etwa nach dem Motto: Ich gehe vor die Hunde - gehst du mit? Tierischer Ernst ist in Kirche und Gesellschaft stark verbreitet.

Humor wird viel zu wenig kultiviert und gefördert. Überanpassung, Verdummung der eigenen Sinne, Verhärtung der Herzen und der Ansichten, Sentimentalität, Fanatismen und Fundamentalismen erweisen sich als Todfeinde einer humorvollen, lebensfreundlichen Grundeinstellung. Gefördert wird nicht eine erotische Kultur unseres Umgangs mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit der "Mutter Erde".

Gefördert werden eher Nekrophilister. Aber was ist denn eigentlich Humor? Im landläufigen Sinn versteht man darunter so ungefähr alles, was mit Witz, Spaß, Ironie, Komik, Clownerie und Karikatur zu tun hat, also zum Lachen reizt. Doch der eigentliche, der "große Humor" ist etwas anderes, auch wenn er mit der menschlichen Lachkultur insgesamt verwandt ist. Echter Humor ist eine Frucht menschlicher Reife und Versöhntheit mit sich selbst und mit dem Leben, trotz aller Widersprüche, trotz allen Elends, trotz aller Beschränktheiten und bitteren Enttäuschungen. Humor wird aus Enttäuschungen geboren, die kränken und wehtun. Man könnte die humorvolle Lebenseinstellung auch als gelassene Leidenschaft bezeichnen: man nimmt intensiv und leidenschaftlich am Leben teil und pflegt zugleich die Gelassenheit. Es ist auffällig, daß man fast alles humorvoll oder humorlos sehen, auffassen, machen und erleben kann. Dieser "große Humor" ist ein Lebenselexier ersten Ranges, den wir nur im Abstand zu den Dingen unseres Interesses entwickeln können.

Jede Umklammerung durch irgendeinen Sachverhalt, jede "Besessenheit" macht uns humorlos. Humor meint eine seelische Grundhaltung heiterer Gelassenheit, in welcher der Mensch die Gegebenheiten seines Lebens gleichsam beruhigt von einer höheren Warte aus betrachten kann. Er entsteht aus einer Mischung von warmer Anteilnahme und heiterer Distanz und wird von Wohlwollen und Sympathie genährt, von unserer Liebesfähigkeit ebenso wie von unserer Vernunft.

Der Theologe Hugo Rahner charakterisiert Humor als "Ernstheiterkeit" - eine treffende Wortprägung. Denn nur ein Mensch, der sich selbst und andere Menschen wirklich ernst nimmt - liebevoll ernst, nicht tierisch ernst -, kann eine humorvolle Lebenseinstellung entfalten. Ähnlich sieht dies Erich Kästner, wenn er sagt: "Humor ist das ernsteste Thema der Welt". Nach Peter Altenberg ist Humor der "Schwimmgürtel des Lebens", der uns vor dem Untergehen bewahrt. Bekannt ist der Ausspruch von Otto W. Bierbaum: "Humor ist, wenn man trotzdem lacht". In der humorvollen Einstellung betrachtet man viele schmerzliche Dinge des Lebens wie durch ein umgekehrtes Fernrohr - und gewinnt heilsame Distanz. Der Clown als zentrale Figur des Humors symbolisiert diese Einstellung durch ein lachendes und ein weinendes Auge.

Der 70jährige Sigmund Freud findet für das Wesen des Humors aufschlußreiche Worte: "Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes ... Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag". Es wird Zeit, aus dem Hochgebirge der Komik - der Heimat des Humors - hinabzusteigen und das weite Land des Komischen zu durchwandern: die vielfältigen Formationen der Witzlandschaften, die Gefilde und Schluchten des Tragikomischen und der Komödie, die Wälder und Felder menschlicher Narrheit.

Als Reiseführer wird uns Peter Berger begleiten, ein kreativer Soziologe, der von der Welt des Komischen ein Leben lang fasziniert war und - wie er selbstironisch schreibt - "am Rande der Senilität" den Mut fand, das vielfältige Reich des Komischen "unprofessionell" zu behandeln und als Buch zu veröffentlichen. Er berichtet, daß sein Vater ein unermüdlicher Witzeerzähler war, der ihn schon früh ermunterte, eigene Witze zu machen. Peter besuchte einen Kindergarten in Wien, und fiel wegen witziger Aktionen oft unangenehm auf. Die Faszination der komischen Wahrnehmung liegt darin, daß die Begrenzungen der menschlichen Existenz auf wunderbare Weise aufgehoben werden. Dies hat etwas Erlösendes und Befreiendes an sich, wie dieser tiefsinnige Witz: Eine Fliege kann sich mit letzter Kraft aus einem Spinnennetz befreien und fliegt weg. Die Spinne ruft ihr wütend nach: "Morgen werde ich dich sicher erwischen!" Darauf sagt die Fliege: "Ätsch, ich bin eine Eintagsfliege!"

Als ich anfangs der siebziger Jahre Soziologie studierte, eröffneten mir Bergers Bücher den Zugang zu einem dynamischen Verständnis der sozialen Wirklichkeit. Der Philosoph Epiktet hat solche Einsicht auf den Punkt gebracht: "Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben". Durch komische Darstellung werden nun die herrschenden Meinungen, Normen, Vorurteile, Selbstverständlichkeiten durchbrochen. Ihre Widersprüchlichkeit wird aufgedeckt. Der Normendruck wird kurz außer Kraft gesetzt - es kommt zu befreiendem Lachen.

Es ist zweifellos komisch, ernsthaft über Komik zu schreiben. Das weiß Berger. Es kann sich nur um Annäherungsversuche handeln: "Dem Komischen mit seiner flüchtigen Natur kann man sich nur auf sorgfältigen Umwegen nähern ... man muß darum herumgehen, immer wieder herum und herum ... Gewißheiten werden sich als Resultat meiner Forschungsfahrt nicht ergeben".

Die Wanderung besteht aus drei Etappen: Zuerst führt uns Berger in die Anatomie des Komischen ein, die er kulturhistorisch, philosophisch, soziologisch, psychologisch und psychosomatisch beleuchtet. Dann folgt eine Schilderung wichtiger Ausdrucksformen der Komik - Humor, Tragikomik, Witz, Satire, Narrheit - mit Beispielen aus der Literatur, gewürzt mit köstlichen Witzen. In der dritten Etappe gibt der Autor Anregungen für eine Theologie des Komischen. Er ist davon überzeugt, daß Komik, Religion und Transzendenz aufschlußreiche Berührungspunkte aufweisen. Die Anatomie, das Wesen der Komik zeigt sich als unerwartetes Kontrastphänomen, das Lachen oder Lächeln auslöst. Es kann heilsam oder verletzend sein. Berger interessiert sich vor allem für den heilsamen Aspekt. Die komische Wahrnehmung wirkt wie eine kleine Insel im Ozean der grauen Alltagswirklichkeit, wie ein Zwischenspiel, das die ernsthafte Alltagswelt unterbricht. Sie eröffnet eine neue Dimension der Wirklichkeitsauffassung und hat etwas Widerständiges, Befreiendes, Entlastendes, Aufklärendes.

Die abendländische Philosophie und das Christentum haben weithin wenig Sinn für Komik und Lachen. Umberto Ecos "lm Namen der Rose" hat ja diese Verfolgung des Lachens zum Thema. Augustinus sagte es klar: "Die Menschen lachen und weinen, und daß sie lachen, ist zum Weinen". Fernöstliche Lebensauffassungen, wie Taoismus und Zen-Buddhismus pflegen dagegen eine tiefsinnige Komikkultur. Die taoistische Weisheit "Hast du einen Gedanken geschmiedet, lerne darüber zu lächeln", erinnert an Thomas von Aquin, der am Sterbelager über seine Summa Theologiae gesagt haben soll: "Das ist alles gedroschenes Stroh. Über Gott kann man nichts aussagen". Hier beginnt die Mystik, die alle Machthaberer, Ideologen und Fundamentalisten fürchten und bekämpfen müssen. Hugo Rahner ist einer der wenigen katholischen Theologen, die den spielerischen Sinn für Komik und Humor kultiviert haben: "Spiel ist Verzauberung, Darstellung des ganz Anderen, Vorwegnahme des Kommenden, Leugnung der lastenden Tatsächlichkeit".

Im Spiegel der Narrheit erscheint die normale Wirklichkeit sowohl verzerrt als auch scharf beleuchtet. Und in allen Kulturen finden sich soziale Institutionen, umschriebene Zeiten und Orte der Narrheit und der Komik. Dabei werden die herrschenden Ordnungen und Werte in ihr Gegenteil verkehrt, zum Beispiel Dionysoskult, Komödie, Narrenfeste, Hofnarren, Karneval, Theater, Zirkus, Clowns, Kabarett.

Mehr oder weniger verbreitet gibt es in allen Religionen heilige Narren und komische Gestalten, die auf das ganz Andere einer religiösen Weltauffassung hinweisen. Die närrische Gegenwelt kann als Spiegelung dieser Welt aufgefaßt werden und zugleich wird der Spiegel zum Fenster in eine andere Welt, die die gewohnte Weltsicht transzendiert, überwindet, relativiert (siehe Symbol des Buchdeckels!).

Es ist komisch, wenn ein Politiker bei einer Wahlveranstaltung versucht, Widersprüche durch fromme Sprüche zu verdecken und dabei so starken Schluckauf bekommt, daß er kaum weitersprechen kann. Anders komisch ist der Ausspruch: Eine Null in Leitungsposition kann bestehende Probleme verzehnfachen. Es ist ganz anders komisch, das "Stehaufmännchen als Symbol der Auferstehung" zu bezeichnen (Berger 249) - oder doch nicht?

Der Clown, dem viel Mißgeschick passiert, gibt nicht auf, läßt sich nicht unterkriegen. Er trotzt dem Schicksal. Er lacht, macht Lachen und macht weiter. Der Clown - eine Figur des christlichen Humors? Eine Überlegung ist diese ungewöhnliche Sichtweise wert - besonders in Zeiten tierischen Ernstes und fundamentalistischen Starrsinns.

Der Autor, Dr. theol., Dr. phil (Psychologie, Soziologie), ist Psychoanalytiker in freier Praxis und Wissenschaftspublizist.

BUCHTIP Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Von Peter L. Berger. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 1998. 279 Seiten, öS 277,-/Euro 20,13

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