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Bedeutsames Musikfest

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Wirkliche Feste der Musik werden um so seltener, je mehr Musikfeste es gibt. Feste sind Ereignisse besonderer Art; werden sie zu oft gegeben oder zu oft kopiert, verlieren sie sehr rasch ihre primäre Eigenschaft, Gegenteil des Alltags zu sein. Und da wir beinahe so weit sind, in Festivals aller Arten etwas Alltägliches zu sehen, können nur außerordentliche Gelegenheiten und außerordentliche Anstrengungen dazu führen, daß ein Musikfest zum Fest der Musik wird. Die Wiener Festwochen, in deren Rahmen sich dieses Musikfest abspielt, haben ein Motto gewählt, welches als Festivalmotto durchaus unalltäglich ist, ein politisches Motto, nämlich: „Kunst in Freiheit“, womit des 20. Jahrestages der Befreiung Österreichs und des 10. Jahrestages der Staatsvertragsunterzeichnung gedacht werden soll.

Ein solches Thema musikalisch umzusetzen, scheint auf den ersten Blick nur zu oberflächlichen Ereignissen führen zu können; je mehr man sich aber mit ihm befaßt, desto mehr Möglichkeiten erschließt es jedoch. Vor allem die eine, welche sich die Wiener Konzerthausgesellschaft auch zu eigen gemacht hat: an die Großen Vier, denen wir vor zwanzig Jahren unsere Freiheit und denen wir vor zehn Jahren unsere Unabhängigkeit verdankten, nun unseren eigenen Maßstab zu legen. Um zu erfahren, ob sie, die uns auf fast allen Gebieten so drückend überlegen sind, auf dem Gebiet der Musik von uns nach wie vor übertroffen werden.

Es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß im Jahre 1945, als Österreich wiedererstand, sich eine einzige Machtposition unseres Landes als unversehrt erwies, unversehrt durch zwei Weltkriege hindurch: die kulturelle Bastion, in den glanzvollen Tagen des alten und größeren Österreich geschaffen und seither allen Widrigkeiten zum Trotz mit aller Energie gehalten. Und ebensowenig bestehen Zweifel darüber, daß unser Musikleben vom ersten Tag des Wiedererwachens an die Bewunderung der ganzen Welt erregte, obwohl wir 1938 viele unserer Besten ans Ausland und in den Jahren, die folgten, eine ganze Nachwuchsgeneration im Krieg verloren.

Seither haben sich die Dinge jedoch grundlegend geändert. Während wir, dank der Großen Vier und vor allem mit Hilfe der Vereinigten Staaten, unser Land neu aufbauen konnten, bauten die Großen Vier, und vor allem die Vereinigten Staaten, mit unserer Hilfe • ihr Musikleben auf. Beides geschah gleichzeitig, beides in einem Tempo, das den Atem benimmt, wenn man bedenkt, was 1945 war. Und so wie wir glauben, in vielem, vor allem im Lebensstandard, zumindest an einige der Großen Vier herangekommen zu sein, sind diese davon überzeugt, uns in vielem, was die Musik anlangt, erreicht zu haben.

In den Vereinigten Staaten gibt es fünf Orchester, die von Dirigenten österreichischer Abkunft (oder zumindest geistiger Heimat) erzogen worden sind: von Krips, Ormandy, Rainer, Szell und Bruno Walter. In England, wo sfch die meisten der 1938 aus Österreich vertriebenen Musiker und Komponisten niederließen (und heute noch von entscheidendem Einfluß sind), hat sich ein Musikleben entwickelt, das nicht nur in seiner Breite, sondern auch in seinen Spitzenleistungen eine Dimension erreicht, die der unseren durchaus ähnelt. In Frankreich hat sich unter dem Einfluß der Wiener Schule von Schönberg, Berg und Webern eine ganze Generation von jungen Komponisten zu neuen Ufern aufgemacht;

unter der Führung von Pierre Boulez nehmen sie heute einen Rang ein, auf den die Welt blickt. Und die Russen haben, was sie neidlos zugeben, in den Jahren der Besatzung so viel von uns gelernt, daß sie es wagen können, ihr jüngstes Orchester, das Moskauer Rundfunk- und Fernsehorchester, zu einem Musikfest nach Wien zu schicken; so sicher sind sie, daß es neben den anderen Orchestern bestehen wird.

Und wir? Wieweit sich unser Musikleben seit 1945 aufwärtsentwickelt hat, können wir nur in der Relation zu anderen erfahren. Wir dürfen uns wohl der Hoffnung hingeben, in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur materiellen Gütern nachgejagt zu haben, doch gilt es, viel Versäumtes nachzuholen, vor allem nachzuhören, was uns während der Jahre der völligen Abgeschlossenheit auch in kultureller Beziehung unbekannt geblieben war. Wieweit es uns gelungen ist, hier mit der übrigen Welt gleichzuziehen und weiter aufzubauen, wird uns vielleicht dieses Musikfest zeigen.

Wir werden sehen. Wären wir nicht bei aller Selbstkritik davon überzeugt, daß das kulturelle, vor allem das musikalische Kapital, von dem wir leben, im wesentlichen noch immer unverbraucht ist, würden wir es nicht unternehmen, andere mit unseren Maßen zu messen. Fällt der Vergleich zu unseren Gunsten aus, wissen wir unsere kulturelle Bastion nach wie vor unangetastet. Fällt er zu unseren Ungunsten aus, wissen wir, daß wir andere Wege zu gehen haben als bisher — und daß wir den Großen Vier die Befreiung Österreichs mit dem Wertvollsten, das wir besaßen, gelohnt haben.

Mit diesen Erwartungen begleiten wir das 12 Internationale Musikfest der Wiener Konzerthausgesellschaft. Wir glauben, außerordentliche Anstrengungen unternommen zu haben, um eine außerordentlich Gelegenheit mit allen ihren Möglichkeiten nützen zu können. Und wir haben in diesem Augenblick nur einen Wunsch: Möge das Musikfest wirklich ein Fest werden. Ein Fest der Musik.

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