Sokol - © Foto: wikipedia / V. Pokorný

Jan Sokol: Gebildete Freiheit

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Der tschechische Philosoph und Humanist Jan Sokol - Eröffnungsredner des diesjährigen Europäischen Forums - im Porträt.

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Der tschechische Philosoph und Humanist Jan Sokol - Eröffnungsredner des diesjährigen Europäischen Forums - im Porträt.

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Er halte es für richtig, verfügbar zu sein, wenn man für ein öffentliches Amt angefragt werde. Jan Sokol sagte mir diesen Satz wenige Wochen, bevor er die Wahl zur tschechischen Präsidentschaft verlor. Die Regierung, die ihn nominiert hatte, verfügte im Parlament über keine tragfähige Mehrheit, und die Abgeordneten entschieden - mehr als ein Jahrzehnt nach der Wende - nicht mehr nach den Kriterien der unblutigen Revolution. Ein Intellektueller? Ein Moralist? Mehr noch: ein Katholik und Europäer? Während sich im säkularisierten Tschechien die Euroskepsis breit machte, bei den Rechtsliberalen ebenso wie bei den immer noch starken Kommunisten.

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Versteckte Freiheit

Er hielt es dennoch für richtig und hatte es immer so gehalten. Als ich ihn während des Prager Frühlings kennen lernte, hatte er die Konsequenzen aus dem Druck des Regimes schon gezogen. Die wirklich Geschädigten, sagte er damals, seien die kleinen Handwerker und Greißler, deren ganze Kreativität vordem in das enteignete Geschäft gegangen war. Er hingegen lebte in der damals versteckten, aber unverstellten Welt geistiger Auseinandersetzung, die dem direkten Zugriff des Regimes entzogen blieb. Ich gewann den Eindruck, dass Prager Intellektuellenkreise besser als ich über die wissenschaftlichen Debatten Westeuropas informiert waren.

Einer dieser Kreise hatte sich um Jan Patočka gebildet, den bedeutendsten tschechischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. (Seit 1961 ist Sokol mit Frantisčka Patočková, der Tochter des Philosophen, verheiratet.) Patočka durfte nicht lehren, Sokols Vater, seines Zeichens Architekt, durfte nicht bauen. Der Protest gegen die Ära nach Dubček machte sich in der Charta 77 Luft - und kostete Patočka das Leben: Sein Herz war dem Polizeiverhör nicht gewachsen.

Mitteleuropäische Bibliotheken verwahrten auch unter Diktaturen die Schätze der Tradition. Die Spannweite des Interesses war enorm. Sokol übersetzte Nicolaus Cusanus ins Tschechische, ebenso Teilhard de Chardin. Den Prager Kreisen, die sich auf eine andere geistige und politische Zukunft vorbereiteten, ging der Stoff nicht aus. Eine neue Bibelübersetzung konnte schon damals in zähen Verhandlungen mit dem Regime in begrenzter Auflage erscheinen.

Die Wahrung der inneren Freiheit und der Widerstand gegen die administrativen Schikanen kippten schließlich das Regime. Was mit dem Namen Václav Havel verbunden ist, hatte einen breiten Hintergrund. Wissenschaft im elfenbeinernen Turm zu betreiben, ließen solche Erfahrungen nicht zu. Der Parlamentspräsident und Bildungsminister Sokol legte den Weg vom Studenten der Anthropologie zum Professor der Philosophie in wenigen Zweijahresetappen zurück. Eine akademische Blitzkarriere? Keineswegs, nur die längst fällige Anerkennung dessen, was in Jahrzehnten gewachsen war, ohne sich die notwendigen Schritte zu ersparen. Jan Sokol ist eine Ausnahmeerscheinung, die auf Ausnahmen für seine Person keinen Wert legt.

Wissen und Aktion

Doch eine Philosophieprofessur war Jan Sokol nicht genug. Er wollte nicht Philosophie um ihrer selbst willen betreiben. Das führte ihn zur Gründung einer neuen, humanwissenschaftlichen Fakultät an der Prager Universität. "Der Mensch, sein Handeln, Erkennen und Denken, sind der Ausgangspunkt", beschreibt er seine Umkehrung der üblichen Intention: Wissen und Erfahrung auf die reale Existenz des Menschen hin auszulegen, ist der Versuch, den Bruch zwischen Erkenntnis und Aktion aufzuheben - Reflex des eigenen Lebens zwischen Wissenschaft und Politik.

Das Studium an seiner Fakultät ist anspruchsvoll, die Kenntnis von ein bis zwei europäischen Sprachen eine Voraussetzung. In der Sprachenvielfalt sieht Sokol das gravierende Hindernis für die Bildung einer europäischen öffentlichen Meinung. Sokols Vorschläge dazu sind konkret: Bildungsprogramme in einer Weltsprache, besonders in Ländern kleiner Sprachräume; eine Europäische Enzyklopädie vom Format der "Britannica" in allen europäischen Sprachen; und ein europäisches Fernsehen. Während Europa von Wirtschaftsfragen dominiert wird, weiß Sokol aus eigener Erfahrung, dass Integrität und Freiheit nicht ohne Bildung gewahrt werden können.

Die Sprache Europas

Das Auseinanderdriften von intellektueller Redlichkeit und politischem Pragmatismus blieb auch den Tschechen nicht erspart und mag ein Grund gewesen sein, dass Václav Havel keinen ebenbürtigen Nachfolger fand. Ein anderer Grund liegt in Sokols politischem Credo, das nationalistische Geschichtsblindheit nicht zulässt. "Ich habe immer gesagt, dass die Vertreibung (der Deutschen nach dem Krieg; Anm.) eine Schandtat war. Zugleich aber kann man heute daran nichts mehr ändern. Diese beiden Aspekte waren mir wichtig", wiederholte er vor kurzem in einem Interview für Radio Prague. Auch schätzt er die Rückerinnerung an das Kriegsende vor sechzig Jahren: "Viele haben das Gefühl, der Frieden ist gesichert, und anders kann das gar nicht sein." In der Europapolitik werde "heute oft um Lappalien gestritten", während das Friedensprojekt Europa aus dem Blick gerät. Das sind offene Worte aus der Erfahrung eines Lebens und eines Landes, das die Ohnmacht Europas in dunklen Jahren erlitten hat; es sind offene Worte, die zur machtvollen Sprache Europas werden sollten - in Alpbach und darüber hinaus.

Zwischen Wissenschaft & Politik

Geboren 1936 in Prag. Studienverbot im kommunistischen Regime, Goldschmied, Mechaniker, Programmierer. Matura, Mathematikstudium im zweiten Bildungsweg. Nach der "Samtenen Revolution" Magisterium in Anthropologie 1993, Promotion 1995, Habilitation 1997, Professor für Philosophie 2000. Gründung der Humanwissenschaftlichen Fakultät Prag, seither deren Dekan. Seit den 60er Jahren Übersetzungen europäischer Philosophie und Theologie aus dem Lateinischen, Deutschen und Französischen ins Tschechische. Mitarbeit an der ökumenischen Bibelübersetzung. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zur europäischen Politik und Philosophie. Unterzeichner der Charta 77. 1990 erfolgreiche Kandidatur für das Bürgerforum, bis 1992 Stv. Parlamentspräsident der čsfr. Als Bildungsminister der čr 1998 Einleitung der Hochschulreform. 2003 Kandidat für die Präsidentschaft Tschechiens.

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