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ARCH AISCH UND MODERN

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“Vü^enn wir Werke der fortgeschrittensten modern-europäischen “ Steinplastik betrachten — etwa des Österreichers Fritz Wotruba oder des Engländers Henry Moore, um nur solche zu nennen, die in unserem Milieu gut bekannt sind —, so finden wir im ersten Fall, bei Wotruba, eine deutliche Annäherung an die geistige Haltung und Gestaltungsfonn der präkolumbianischen Steinplastik, im zweiten, bei Moore, sogar eine bewußte, biographisch gesicherte Hingabe an diese (insbesondere in ihrer aztekischen Sonderform) als dem weckenden Vorbild seiner bildhauerischen Entfaltung. Und wenn wir dazu noch die Tatsache nehmen, daß auch die moderne Abstraktmalerei in manchen ihrer repräsentativsten Erscheinungen den unzweideutigen Einfluß der präkolumbianischen Kunst zeigt (so etwa die mathe-matisierende, durch das „Scbachbrett“-Symbol gekennzeichnete Weimarer und Dessauer Mittelphase Kandinskys, von 1921 bis 1927, den Einfluß der Inkagewebe, den wir auch in den .magischen Quadraten“ Paul Klees zu spüren vermeinen; oder die gewaltige Spätphase Kandinskys, seine Pariser Schöpfungen von 1933 bis 1944, mit ihren Visionen kosmischer Larvenwesen, den Eindruck der frühperuanischen Paracas-Grabgewebe), so erkennen wir, daß es sich in allen diesen Fällen nicht nur um individuelle, vom Standpunkt der allgemeinen Kulturentwicklung zufällige Launen jener Künstler handelt, sondern um eine für das Verständnis der Enrwicklungsrichtung der ganzen modernen Kultur höchst wichtige Erscheinung, deren nähere Betrachtung sich lohnen dürfte.

Worin besteht nun — fragen wir zunächst — die für die Bildhauerkunst Wotrubas entscheidende Haltung? Erstens in der Ablehnung des individuell-persönlichen Moments, das seit der Gotik für die abendländische Plastik charakteristisch war, und in der Reduktion der Gestalt auf das Menschl'ch-All-gemeine; zweitens, in der Ablehnung des rationalistisch-intel-lektualistischen Faktors, der seit der Antike die Bildhauerkunst bestimmte und in der Betonung des den geistigen Ausdruck verkörpernden Antlitzes und Kopfes bestand, und in der Reduktion der Gestalt auf die reine Körperlichkeit, auf die irrationalen Elemente der lastenden Körpermasse; drittens, in der Ablehnung der naturgetreuen Nachahmung der Körperformen, mit ihrer Rundung und Glätte, und in der Reduktion der Gestalt luf die Darstellung der in ihrem Stehen, Sitzen oder Liegen zum Ausdruck kommenden Kraftlinien, unter striktem Verzicht auf alle die Wirkung dieser Kraftlinien verringernden Details; und endlich viertens, in der Betonung der im Material selber gelegenen Bedingnisse des Werkes, in der Reduktion der dargestellten Gestalt auf die wuchtige, brutale „Steinhaftigkeit“ in ihrer 'Vierkantigkeit und Eckigkeit, auf blinde Gebundenheit an Boden und Schwere, anstatt des seit dem klassischen Griechentum üblichen freien, schwerelosen Emporsteigens der als schön und geistdurchdrungen gegebenen Mensch- oder Tiergestalt. Das Ergebnis dieser bildhauerischen Bewältigung des Problems der Steinplastik ist das Begreifendes Menschenwesens als eines Stückes des lastenden Erdkosmos, wobei die elementaren Tatsachen des Stehens, Sitzens, Liegens — und zwar nicht dieses oder jenes Individuums, sondern des Stehens, Sitzens, Liegens an sich — zu gewaltigem, im täglichen Leben unter der Hülle ihres individuell-persönlichen Gehaltes verschwindendem Ausdruck gelangen.

Vergleichen wir nun damit das Urbild präkolumbianischer Steinplastik — denken wir dabei etwa an die streng blockhaft geschlossenen Vollplastiken, wie die gigantische Monolithfigur von Tiahuanaco in Bolivien oder die Atlanten von Chichen-Itzä im mexikanischen Yukatan, an die halbliegenden „Chac-mool“ -Gestalten im zentralmexikanischen Tula und in Chichen-Itzä, an die von geheimnisvollem Grauen umwitterten -iesigen Dämonengestalten des südkolumbianischen San Augustin und Tierradentro, an die zauberhaft erzählenden Steinreliefs der frühen Maya in Guatemala und Honduras, an die bannend ausdrucksstarken Steinmasken Frühmexikos und an die tiergestal-tigen Kultgegenstände des inkaischen Hochandengebietes und endlich an die ungeheuren Symbole der gefiederten Schlange an den mexikanischen Tempelpyramiden —, so finden wir auch in all diesen Werken die strenge Stilisierung im Sinne der Betonung der „Steinhaftigkeit“, der tellurischen Bindung, des nichtindividualisierten und nicht intellektualisierten Verhaftetseins an Erde und Kosmos, wie bei Wotruba. Allerdings finden wir in dieser präkolumbianischen Steinkunst auch — und mit stärkster Betonung — ein Element, das bei Wotruba nicht erscheint: die religiös-mythische Symbolhaftigkeit aller Steinplastik, ihre mystisch-„maskenhafte“ Bedeutung einer gleichnishaften Verkörperung dämonischer Kräfte, die den toten Stein in mythischen ,,Logos“ verwandelt, ihre direkte Bezogenheit auf bestimmte theologisch-mythologische Vorstellungsgehalte, die gedanklich weit hinausreicht über die von Wotruba dargestellte Verkörperung blinder physischer Massenkräfte.

Wenden wir uns nun dem Werk des Bilhauers Henry Moore zu, den die Wiener durch eine bedeutende Ausstellung kennengelernt haben, so finden wir in ihm Elemente, die über Wotruba hinausweisen und die wohl aus dem biographisch gesicherten direkten Kontakt dieses Künstlers, mit der aztekischen Plastik stammen: Außer dem auch Wotruba eigenen Streben nach blockhafter Geschlossenheit und Wucht der Steinend Bronze-) Plastik, nach dem das Werk prägenden Hervortreten der „Steinhaftigkeit“ als solcher mit aller darin beschlossenen Schwere und Geschlossenheit, finden wir in ihm einerseits das Wissen um das Geheimnis der „Maske“ — das heißt, um das Über-sich-selbst-Hinausgehobensein des Menschenwesens durch die Bekleidung mit den Zeichen seiner „Rolle“ im mythisch-religiösen Urgeschehen —, anderseits das tiefe Bewußtsein von der Dämonie die im menschlichen wie im tierischen Wesen beschlossen ist.

Das Bewußtsein von der das Menschenwesen verwandelnden und über sich hinaushebenden Macht der „Maske“ hat Moore zu einer für ihn besonders charakteristischen Schöpfung geführt- Zu der Unterscheidung nämlich zwischen „innerer“ und „äußerer“ Form stehender und liegender Menschen, wobei die, schwächlich, fast komisch wirkende „innere Form“ umkleidet und ins mythische Gewaltige erhoben erscheint durch die „äußere Form“: um die das stehende oder liegende „Individuum“ karikierende, armselige „innere Form“ legt sich — im Sinne der mythischen Philosophie der „Maske“ — wie ein wallender Königsmantel die „weiträumige „äußere Form“, die offenbar die tellurischen Kräfte symbolisiert, die beim Stehen, Sitzen oder Liegen selbst der armseligsten Kreatur ins Spiel kommen; die „Wahrheit“ des stehenden oder liegenden Menschen sind eben, für Moore, die in seinem Stehen oder Liegen sich auswirkenden überpersönlichen, kosmischen Kräfte, ganz ebenso wie die mythische „Wahrheit“ und Macht des präkolumbianischen Priesters in der Gottesmaske liegt, die ihn umkleidet, gelegentlich sogar in der dem Opfer abgezogenen Haut, die dem Gott, und in seiner Vertretung dem Priester, angezogen wird. Hierher gehört auch die höchst eindrucksvolle mehrfache Darstellung des „Helms“, der von Moore durchaus als „Maske“ im mythischen Sinn gestaltet ist, unter dem als „Träger“ ein kleines, etwa gabelartiges Wesen erscheint, das in der Entfernung an ein Menschenantlitz erinnert: Es ist eben die mythische „Maske“, der „Helm“, welcher diesem lächerlichen Wesen seine unvergleichliche Größe und Wucht verleiht. Gelegentlich erscheinen bei Moore auch Bildwerke — so etwa die Travertin-Mormor-plastik von 1934 —, in denen die Naturform (in der genannten Plastik ein Menschenantlitz) sich auf ein magisches Zeichen reduziert, wie es so oft in präkolumbianischen Kunstwerken der Fall ist.

Aber auch bei Moore finden wir, daß er von der präkolumbia- : £ mschen Kunst etwas — und zwar gerade das für sie Entscheidende — nicht übernommen hat: den spezifisch religiösen Gehalt. Es sind ja nicht nur allgemeine kosmisch-tellurische Kräfte, die sich in den peruanisch-bolivianischen und mexikanischen Steinplastiken verkörpern, sondern konkrete mythologischreligiöse Inhalte. Und auch die wohl aus den Paracas-Toten-tüchern geschöpften kosmischen Larvenwesen Kandinskys sind bei diesem nicht über ein tiefsinniges Spiel hinausgediehen. Diese Feststellung führt uns zu einem letzten — wichtigsten — Problem: dem der religiösen Kunst in unserer Zeit. Sowohl die Kunst Wotrubas, wie das — dem Begreifen mythischer Positionen viel nähere — Werk Moores (oder Kandinskys) ist letztlich profan, wie es das gesamte moderne Leben ist. Das Leben der präkolumbianischen Hochkulturvölker dagegen war durchaus sakral bestimmt, religionsdurchdrungen bis ins kleinste Detail ihres täglichen Lebens, ihres astronomischen und physikalischen Denkens, ihres strategischen und politischen Planens. Nur eine einzige Periode der abendländischen Kulturentwicklung ist an kultisch-sakraler Totalität des gesamten Lebens mit dem präkolumbianischen Dasein vergleichbar, die frühmittelalterlichromanische Epoche, deren Kunst so manche Gemeinsamkeit mit der präkolumbianischen aufweist. Seit der Spätgotik aber, und noch mehr seit der Renaissance, sind Kulturbewußtsein und Kunst durch die von der Antike her kommenden individualistisch-personalistischen und intellektualistischen Gehalte geprägt worden und haben in fortschreitendem Maße die Fähigkeit verloren, den kosmisch-tellurischen Inhalten der sakralen Gegenstände gerecht zu werden oder gar die Dämonie, das Satanische — das ja zu den Grundgehalten christlichen Religionserlebens gehört -in angemessener Weise zu verkörpern. Das heutige, beim Tiefpunkt vollkommener Profanität angelangte Lebensgefühl aber — dessen Erfassen von Mensch und Ding in der Kunst Wotrubas und Moores einen so mächtigen Ausdruck gefunden hat — besitzt naturgemäß nicht die Kraft, um von sich aus zu einer neuen religiösen Kunst zu gelangen, die zugleich dem Lebensgefühl des heutigen Menschen wirklich entspräche.

A ber könnte die vertiefte Empfänglichkeit repräsentativer Künstler unserer Zeit für die Bildersprache und das Weltgefühl der präkolumbianischen Epoche (der etwa das erneute Verständnis großer katholischer Schriftsteller Frankreichs, wie Mauriac und Bernanos, für die dämonologischen Gehalte des christlichen Welterlebens als ebenbürtiges Zeichen an die Seite zu stellen wäre) nicht als Hinweis darauf begriffen werden, daß eine entscheidende Wende des Kulturbewußtseins in der Richtung erneuten kultisch-sakralen Erlebens bevorsteht? Thomas Mann hat in seinem tiefsten und mächtigsten Roman, im „Doktor Faustus“, davon gesprochen, daß die kultische, sakrale, liturgische Lebensform den dauernden, immer wieder erneut in Erscheinung tretenden Urgrund echten Lebens und echter Kunst darstelle, die humanisierte, individualisierte, intellektualisierte, säkularisierte, profane und nur-kulturelle Epoche dagegen die Ausnahme, die Episode, das Vorübergehende: Wäre es nicht denkbar, daß die Kulturentwicklung, die in wenigen Jahrzehnten in nahezu allen repräsentativen Künstlern Europas zum völligen Zusammenbrechen und Verschwinden des antiken Erbes indi-vidualistisch-personalistischer und intellektualistischer Gedanken geführt hat, weiterginge in einer Richtung, d'e Berdjajew alt „Neues Mittelalter“ bezeichnet hat?

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