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Bekenntnis zu Europa

19451960198020002020

Europa Aeterna. Metz-Verlag, Zürich. Großoktav. 2 Bände.

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Europa Aeterna. Metz-Verlag, Zürich. Großoktav. 2 Bände.

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Es liegt in der Natur der Sache, daß die einzelnen Beiträge eines Gemeinschaftsunternehmens erhebliche Unterschiede im Niveau aufweisen und daß nicht alle Mitarbeiter sich den einheitlichen Grundlinien fügen. „Europa Aeterna“ hat unter 106 Beiträgen etwa ein Halbdutzend, die völlig danebengeraten sind, ein Dutzend schwacher, ungefähr dreißig stofflich guter, doch den Höchstzielen nicht ganz entsprechender, dagegen mehr als die Hälfte ausgezeichneter Kapitel darzubieten. Darunter finden sich Glanzstücke, die allein ausreichen, um dem Werk außergewöhnlichen, dauernden Belang zu sichern.

An die Spitze rücken wir die Darstellungen Oesterreichs, Italiens im ersten, Frankreichs, Irlands im zweiten Band, dann die hervorragenden geographischen Einführungskapitel, die der Baseler Privatdozent Hans Annaheim den einzelnen Hauptabschnitten — Mitteleuropa, Südeuropa, Westeuropa, Nordeuropa, Donauländer, Osteuropa — voranschickt, ferner einzelne Abhandlungen über die Schweiz (Natur und Mensch von Hermann Hilt-brunner, die Schweiz als Staat von Peter Dürren-matt), über die Türkei (ungeachtet einiger temperamentvoller Entgleisungen, das geistreiche geschichtlich-politische Bild des Nestors der türkischen Publizisten, Yalman), über Großbritannien (den allgemeinen Artikel von Professor Dudley Stamp, den über Staat und Geschichte von Wilson Harris und, obzwar er über ein paar kleine Unzulänglichkeiten, wie den Nebel und das Elend von Whitechapel, elegant hinweggleitet, den funkelnden von Dozent Honeybourne über London). Die Aufsätze von Ministerialrat Schier über die Wirtschaft, von Oskar Maurus Fontana über die Kultur Oesterreichs können als Muster dafür gelten, wie derlei in einem Sammelwerk aussehen soll. Sachlich und profund der eine, musisch beschwingt und dennoch nicht in leere Geschwätzigkeit ausartend der andere, stoffprall und objektiv aber beide, erheischen sie besondere Anerkennung. Diese gebührt einzelnen der Italien-Kapitel: der dichterischen und einprägsamen Schilderung, die Rolf Schott von Italiens Landschaft und Volk, dann vom ewigen Rom entwirft; dem ausgezeichneten Ueberblick Antonio Milo di Villagrazias über die neuere Geschichte seiner Heimat und über deren Politik, dem über Volkswirtschaft und Verkehrswesen von Professor Francesco Dello loio — dem besten und gehältigsten Wirtschaftsaufsatz in „Europa Aeterna“.

Helles Entzücken wecken Professor Paul Guths charmantes Panorama „Frankreich und die Franzosen“, Gerard Bauers „Paris“, die einsichtig kritischen und dadurch wohltuend von andern, in offizielle Selbstbeweihräucherung mündenden Gegenstücken in diesem Werk getrennten Ausführungen Professor Michel Mouskhelys über den französischen Staat. Rene Fleurys nicht minder scharfblickende Studie zur französischen Wirtschaft, Claude Baignieres Betrachtungen über Musik. Das Irland-Kapitel von Kees van Heek darf ruhig den eben genannten, vom gallischen Esp it getränkten Abschnitten zur Seite treten, ihnen verwandt im keltischen Geist. Es würde zu weit führen und die Dimensionen einer Anzeige sprengen, wollten wir nun alle die guten, soliden Liebersichten verzeichnen, die den einzelnen europäischen Ländern gelten. Nur ein paar Dinge seien noch herausgehoben.

Zunächst, und mit ebensoviel Vergnügen wie Beifall, die relativ beträchtliche Aufmerksamkeit, die den kleinen und kleinsten Staaten geschenkt wurde. Auch das ist beste europäische Tradition, daß man das Interesse für ein politisches Gebilde nicht einzig von dessen brutaler Macht abhängig sein läßt. Wir lesen also sehr anheimelnde und willkommene Informationen über San Marino, Andorra, Liechtenstein — nur der Sonderartikel über die Liechtensteingalerie dünkt mir des Guten zuviel —, das Saargebiet und Island. Vier Aufsätze über Luxemburg aber überschreiten doch das Maß des Vertretbaren. Daß Professor Giovanni Spadolini es verstanden hat, über den Vatikanstaat etwas Originelles zu sagen, sei mit Dank gemeldet.

Die Pflicht des Rezensenten gebietet leider auch, auf die Schattenseiten des Werkes hinzudeuten. Deutschland ist zwar eingehend, doch nicht sehr erfolgreich bedacht worden. Sowohl die Artikel über die Wirtschaft als auch, und vor allem, der über die Literatur — den man nur ja nicht, wie das geschehen ist, dem bedeutenden Nationalökonomen Wilhelm Röpke anlasten möge; er stammt von Werner Röpke —, sind unzulänglich, was zum Beispiel beim Vergleich mit den entsprechenden Oesterreichkapiteln oder mit der Wirtschaftsübersicht Dello Joios kraß hervortritt. — Zur Geschichtssynthese Professor Michael Freunds hätten wir so viel Einzelvorbehalte zu erheben, daß dies allein eine ganze Abhandlung füllte. Sehr schwach und vom Ressentiment geladen, dafür an den Daten und Tatsachen souverän vorübergleitend, sind die Aufsätze über Spanien. Madariagas vierseitige, doch höchst einseitige und nur mit der linken Hand hingeschleu-derte Proklamation über die spanische Kultur ist ein Schulbeispiel dafür, wie gefährlich es Jst, in einem Sammelwerk, wo es eher auf gewissenhafte und aus dem Vollen schöpfende Darlegung der Tatsachen, denn auf Orakelsprüche von den Höhen eines stolzen Olymps ankommen sollte, einen großen Namen statt einer gültigen Leistung anzutreffen. Mißglückt sind, diesmal aus Ressentiment gegen die andere diktatorische Fakultät, die Kapitel über fast alle Volksdemokratien. Emigranten, die den Kontakt mit der Heimat verloren haben und für die alles mit dem dortigen Umbruch aufhört, geben da Schilderungen, die mit zuviel Zorn und mit zuwenig Studium verfaßt sind. An Stelle noch so berechtigter Klagen und neben nicht minder berechtigten Anklagen hätten wir unbedingt konkrete, durch Zahlen und Namen gestützte Tatsachen über die neueste Entwicklung und über die Gegenwart dieser Staaten gelesen. Auch den aus langjähriger Kenntnis schöpfenden und vorzüglich geschriebenen Kapiteln Professor Joseph Ehrets über die Sowjetunion bzw. da europäische Rußland, über die Baltikumländer und über Finnland können wir den Vorwurf nicht ersparen, daß darin zuviel Lyrik und Sentiment, Ressentiment enthalten sind und zuwenig Angaben über Verfassung, Wirtschaft, neuere und neueste Kunst, Literatur und Wissenschaft. So einfach, mit einer verdammenden Handgebärde, darf man den Beitrag des Ostens zur gesamteuropäischen Kultur nicht abtun. Derlei Einseitigkeit sollen wir den Bolschewiken und ihrer grotesken „Enciklopedija“ überlassen. W i r haben keinen Grund, um nur einiges zu erwähnen, die Leistungen der sowjetischen Medizin und Biologie, der Archäologie und der Wirtschaftsgeschichte zu verschweigen, noch den falschen Anschein zu erwecken, als hätten die Volksdemokratien keine großen dichterischen und künstlerischen Talente zur Verfügung. Aufgabe eines Unternehmens wie der „Europa Aeterna“ wäre im Gegenteil, zu zeigen, wie sehr alle diese wirklichen kulturellen Schöpfungen dem gemeinsamen christlichen, abendländischen europäischen Erbe verhaftet sind, das sie mitunter — vergebens — zu verleugnen trachten.

Gegenüber diesem Haupteinwand verblassen sämtliche anderen, geringeren Vorbehalte, die ich bereits gemacht habe oder die ich noch vorbringen könnte — etwa über das Fehlen eines Abschnittes „Französische Kunst“, gegen die unnötige Zersplitterung der Beiträge über die Türkei und über Griechenland. Wird der verkümmerte und unbefriedigende Osteuropateil künftig auf die Höhe der fünf anderen, im ganzen vortrefflichen Hauptabschnitte emporgehoben werden? Wir hoffen es, damit wir dem gar empfehlenswerten Werk nicht nur das geziemende Lob zuerkennen dürfen, es sei das bisher beste seiner Art und weit über den Durchschnitt gelungen, sondern

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